Schlafen und Wachen nach der inneren Uhr |
31.03.1997 00:00 Uhr |
Pharmazie
Der
Mensch ist ein oszillierendes Wesen. Damit sind
keineswegs wankelmütige Geister oder unstete
Zeitgenossen gemeint, sondern vielmehr der biologische
Rhythmus, dem alle Menschen unterliegen. Dieses Auf und
Ab, dem viele Körperfunktionen folgen, steuert auch
unser Wachen und Schlafen. Rolle und Funktion des
gesunden Schlafs für das körperliche und seelische
Wohlbefinden sind kaum bekannt; das Wissen über den
gestörten Schlaf hat jedoch in den letzten Jahrzehnten
dank intensiver Forschung erheblich zugenommen. Dem Thema
Schlaf widmete sich das 26. Fortbildungsseminar der
Landesapothekerkammer Baden-Württemberg am 22. und 23.
März in St. Blasien-Menzenschwand.
Normalerweise schlafen wir nachts, nicht als Folge des
natürlichen Hell-Dunkel-Wechsels, sondern einem
endogenen biologischen Rhythmus gehorchend, der von der
inneren Uhr gesteuert wird. Viele Körperfunktionen
unterliegen einem sinusförmigen Ablauf, erklärte
Privatdozent Dr. Jürgen Zulley aus Regensburg. Die
Körperkerntemperatur schwankt vom Minimum am frühen
Morgen bis zum Höchstwert am Abend um bis zu 1,5 °C.
Alle Versuchspersonen können beim Minimum der
Körpertemperatur schlafen, so gut wie keiner beim
Maximum.
Selbst unter extremen Bedingungen eines mehrwöchigen
Aufenthalts in einem Versuchsbunker ohne Tageslicht,
Geräusche und Sozialkontakte bleibt diese Tagesperiodik
erhalten, folgt jedoch einem 25-Stunden-Turnus. Licht
über 2500 Lux synchronisiert diesen inneren Takt mit dem
äußeren 24-Stunden-Tag. Das Licht wird über die Retina
zum Nucleus suprachiasmaticus (SCN) im Hypothalamus
geleitet; dieser gilt als Sitz der inneren Uhr. Über
mehrere Stufen wird daraufhin in der Zirbeldrüse die
Maletonin-Sekretion gehemmt. Nachts ist der
Melatonin-Spiegel am höchsten, zumindest bei jungen
Menschen.
Der Schlaf und seine Stadien werden vom
circadianen Faktor C und homöostatischen Mechanismen
gesteuert. Der Faktor C öffnet das Schlaffenster. Jetzt
kann ein Schlaffaktor, der tagsüber akkumuliert,
abgebaut werden. Damit könnte man erklären, warum
Nickerchen am Tage den abendlichen Schlafdruck
vermindern.
In der ersten Nachthälfte tritt der Tiefschlaf ein, der
die Erholung vermittelt. Die Dauer der vorangehenden
Wachzeit scheint als homöostatischer Faktor die
Tiefschlafzeit zu steuern. Die gesamte Schlafdauer ist
weniger wichtig, vier bis fünf Stunden sind jedoch
notwendig. Wieviel Ruhezeit ein Mensch braucht, ist
wahrscheinlich genetisch geprägt, sagte Professor Dr.
Mathias Berger, Freiburg.
REM, der paradoxe Schlaf
Durchaus kein friedvolles Bild bietet der
REM-Schlaf; das Polysomnogramm zeigt schnelle
Augenbewegungen, eine völlige Atonie der Haltemuskulatur
und eine hohe ZNS-Aktivität. Der REM-Schlaf ist immer
circadian gesteuert; er tritt alle 90 bis 100 Minuten
auf. Möglicherweise dient er bei Säuglingen und
Kleinkindern der Ausbildung neuronaler Regelkreise,
führte Berger aus. Säuglinge verbringen von 16 Stunden
Schlaf am Tag etwa die Hälfte im REM-Stadium. Vielleicht
brauchen Erwachsene gar keine REM-Phasen mehr.
Andererseits könnte diese Phase durch Traumerlebnisse
das emotionale Gleichgewicht festigen.
Der circadiane Rhythmus von Körpertemperatur und
REM-Schlaf reagiert relativ träge auf Umstellungen, zum
Beispiel durch Nachtarbeit oder Reisen über die
Zeitzonen, sagte Privatdozent Dr. Hartmut Schulz aus
Erfurt. Daher hat man in Europa ein schnell wechselndes
Drei-Schicht-System für die Schichtarbeit etabliert.
Viel wichtiger sei die Auswahl geeigneter Personen.
Menschen mit nächtlichen Schlafstörungen haben oft ein
verändertes Schlafprofil, zum Beispiel zu wenig
Tiefschlafphasen. Ein anderes Bild zeigen Narkoleptiker;
sie leiden unter unüberwindlichen Schlafanfällen
tagsüber, die von völliger Atonie der Muskulatur
begleitet werden. Den Nachtschlaf beginnen sie meist mit
REM-Phasen, berichtete Schulz aus der Diagnostik im
Schlaflabor. Schlaf- und Wachzustände sind wenig
voneinander abgegrenzt.
Schlafentzug als Heilmittel
Nicht immer stimmt das Wort vom Gesundschlafen.
Daß Schlaf auch schaden kann, zeigte Berger am Beispiel
depressiver Patienten, die häufig über Schlafstörungen
klagen und daher Hypnotika bekommen. Überraschenderweise
bessert sich eine Depression bei 60 bis 70 Prozent der
Patienten, wenn sie eine Nacht wach bleiben mußten. Ein
Nickerchen am nächsten Morgen löst einen Rückfall aus.
Aus dieser Beobachtung entwickelte Berger das
Schlafentzugs-Nap-Paradigma. Bei depressiven Patienten,
die auf Schlafentzug positiv reagieren, fördert ein
Kurzschlaf am Vormittag die Depression, während er
nachmittags und in den frühen Abendstunden folgenlos
bleibt. In einem komplizierten Versuchsschema konnten
Schlafentzug und Nachmittagsschlaf die Krankheit sogar
dauerhaft bessern.
PZ-Artikel von Brigitte M. Gensthaler und Hartmut Morck,
St. Blasien-Menzenschwand
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