Vom Zipperlein zur Krankheit |
09.12.1996 00:00 Uhr |
Pharmazie
Veränderte Pharmakotherapie im Alter
Ein Nickerchen am Nachmittag und in der Nacht oft
wach? "Das ist keine Indikation für
Schlafmittel!" Professor Dr. Björn Lemmer,
Chronobiologe am Institut für Pharmakologie und
Toxikologie in Mannheim, erklärte, daß sich die
Schlafstruktur im Alter ändert. Die Zahl der
Tiefschlafstadien und der REM (Rapid eye movement) -
Phasen ist reduziert, der Schlafende wacht häufiger auf.
Außerdem nimmt das Schlafbedürfnis ab, und die kleinen
Nickerchen müssen in den Gesamtschlafbedarf eingerechnet
werden. Lemmers Vorschlag: "Trinken Sie lieber kurz
vor dem zubettgehen ein Glas Rotwein oder kaufen Sie sich
einen Hund. Dann sind Sie öfter an der frischen
Luft."
Schlafstörungen sind ein Beispiel dafür, daß sich
verschiedene Körperfunktionen und Regulationsmechanismen
altersabhängig verändern. Das muß bei der
medikamentösen Behandlung berücksichtigt werden, denn
dadurch verschieben sich bekanntlich Pharmakodynamik und
-kinetik. Ein Beispiel für die Dynamik: Durch
Benzodiazepine kann es im Alter zu paradoxen Reaktionen
kommen (Stimulation und Desorientierung statt Sedierung),
deren Ursache nicht bekannt ist. Sie hätten aber nichts
mit Reboundeffekten zu tun, betonte Lemmer.
Im Hinblick auf die Pharmakokinetik betonte er: "Die
Dosierung richtet sich nach der Konstitution und
Lebensweise des Menschen. Die Angaben in Lehrbüchern
beziehen sich jedoch auf den gesunden Normalgewichtigen
in Monotherapie." Im Mittelpunkt von kinetischen
Prozessen steht bekanntlich das freie Pharmakon, es wird
durch die Stellgrößen Liberation, Absorption,
Distribution, Metabolismus und Exkretion beeinflußt.
Ändert sich im Alter eine Stellgröße, ist die
Konzentration des freien Pharmakons unmittelbar
betroffen.
Das Fettkompartiment nimmt im Alter zu. Das bedeutet für
lipophile Substanzen wie Diazepam oder tricyclische
Antidepressiva eine Zunahme des Verteilungsvolumens und
dadurch bedingt eine längere Halbwertszeit. Umgekehrt
weisen hydrophile Verbindungen (Antipyrin, Paracetamol,
Digoxin) im Alter ein kleineres Verteilungsvolumen auf.
Bei Substanzen mit hoher therapeutischer Breite wie
Penicillin ist das von untergeordneter Bedeutung, bei
Digoxin mit enger therapeutischer Breite muß reduziert
dosiert werden.
Weitere Veränderungen in der Kinetik hängen mit der
Abnahme des Herzzeitvolumens (etwa 1 Prozent pro Jahr ab
30 Jahren) und der Organperfusion zusammen. Die Clearance
von beispielsweise Propranolol, Imipramin oder Pethidin
kann vermindert sein, da ihre Exkretionsrate
hauptsächlich hepatisch verläuft und deshalb von der
Leberdurchblutung abhängig ist. Der renale Blutfluß
vermindere sich um circa 1 Prozent pro Jahr ab 50 Jahren.
Damit sei die renale Elimination von hydrophilen Pharmaka
(Tetracycline, Phenobarbital) im Alter auch ohne
zusätzliche Erkrankung vermindert, führte Lemmer aus.
Die Prostata, das mystische Organ
"Das Nachtröpfeln und nasse Wäsche ist für die
Mehrheit der Patienten das störendste Problem",
erklärte Professor Dr. Peter Alken, Direktor der
Urologischen Klinik in Mannheim, in seinem Vortrag.
Abgeschwächter Harnstrahl, Restharngefühl,
Startschwierigkeiten oder Strahlunterbrechung würden als
weniger belastend empfunden. Die Prostata erkrankt
vergleichsweise häufig: Bei 50 Prozent der Männer über
60 Jahren seien Veränderungen an der Prostata
mikroskopisch nachweisbar, bei 50 Prozent davon sei die
Vergrößerung auch makroskopisch zu erkennen, also zu
ertasten. Bei wiederum der Hälfte davon komme es zu
symptomatischen Beschwerden. Aber: "100 Prozent der
Männer haben Angst, ihr Prostataleiden sei mit Impotenz
verbunden. Das ist definitiv nicht der Fall."
Die Prostata sei für Patient und Arzt gleichermaßen ein
mystisches Organ, sagte Alken. Es gebe Patienten, die
trotz hypertrophierter Prostata keine subjektiven
Symptome spüren, andere zeigen eine deutliche
Symptomatik ohne objektive Obstruktion. Viele Männer
glauben, ein Prostataproblem zu haben, weil sie nachts
auf die Toilette müssen. Die wenigsten würden aber
durch Harndrang geweckt, das habe eine Patientenbefragung
ergeben. Die meisten Männer gingen deshalb zur Toilette,
weil sie sowieso gerade wach sind. Was die meisten nicht
wissen: Die Schlafstruktur ändert sich physiologisch;
ohne Krankheitswert wache man vier- bis fünfmal nachts
auf. Unabhängig von einer benignen Prostatahyperplasie
(BPH) nehmen außerdem die Blasenkapazität, die
Miktionsfrequenz und die Diurese ab. Diuretika sollten am
besten mittags eingenommen werden, riet Alken.
Harnverhalt, Niereninsuffizienz, rezidivierende
Harnwegsinfekte und Blasensteine sind Indikationen, die
zur Intervention zwingen. Ursache für die
Miktionsstörungen ist die rein mechanisch infravesikale
Obstruktion durch die vergrößerte Prostata.
Bei leichter Symptomatik ist "watchful waiting"
angezeigt, so Alken, da etwa ein Drittel eine spontane
Besserung erfährt. Beim zweiten Drittel bleibt das
Krankheitsbild konstant, beim Rest entwickelt es sich
progredient. Bei leichter Symptomatik haben
kostengünstige und nebenwirkungsarme Phytopharmaka ihren
Platz, sagte Alken. Es sei erwiesen, daß sie den
Zeitpunkt einer Operation hinausschieben. Sie wirken
abschwellend und entzündungshemmend, verhindern aber
nicht das Wachstum der Prostata. Von der ehemaligen
Kommission E wurden Brennesselwurzel, Sägepalmenfrüchte
und Kürbissamen positiv monographiert.
Deutliche Symptome rechtfertigen den Einsatz von
Rezeptorenblockern und Antiandrogenen. Die alpha-a1-Antagonisten relaxieren den
Blasenhals und die glatte Muskulatur der Prostata. Nach
Alken konnte bisher nicht eindeutig nachgewiesen werden,
ob Doxazosin, Prazosin, Terazosin oder Tamsulosin
überlegen ist. Der Einsatz von Finasterid, einem
alpha-5a-Reduktasehemmer, ist indiziert, wenn das Gewebe
deutlich hypertrophiert ist. Der Arzneistoff inhibiert
die Umwandlung von Testosteron zu Dihydrotestosteron, ein
erhöhter DHT-Spiegel bewirkt eine vergrößerte
Prostata. Minuspunkte: Nur rund die Hälfte der Männer
profitiert von der Therapie, und das erst nach mindestens
sechs Monaten.
Atherosklerose und ihre Folgen
Atherosklerose ist schlecht meßbar. Will man sie
mechanisch untersuchen, zerstört man das Kollektiv,
erklärte Professor Dr. Bernhard Höfling,
Universitätsklinikum Großhadern in München, das
Dilemma. Und: "Nach dem heutigen Kenntnisstand gibt
es kein Medikament, das prophylaktisch in den Mechanismus
der Plaquesbildung eingreift." Außer einer
ausgewogenen Mischkost mit geringem Cholesterolgehalt und
Vermeidung von Risikofaktoren könne man vorbeugend
nichts tun. Es sei erwiesen, daß die Wahrscheinlichkeit,
einen Herzinfarkt zu bekommen, mit der Zahl der
kardiovaskulären Risikofaktoren (Rauchen, Diabetes
mellitus, hoher Blutdruck) steigt.
Im fortgeschrittenen Lebensalter wird das Endothel
brüchig, führte Höfling aus. Gerade an den
Bruchstellen komme es zur Ruptur von Plaques, fettreicher
Kapselinhalt ergießt sich. Setzt sich ein Thrombus auf,
wird das Lumen unter Umständen verschlossen.
Zukunftsmusik: Höfling setzt auf die lokale
Genexpression, die es vielleicht irgendwann möglich
machen könnte, gezielt in die Vorgänge am Endothel
einzugreifen. "Zum Beispiel Intervention in die
Plaqueszusammensetzung oder in das
thrombotisch-fibrinolytische Gleichgewicht."
Atherosklerose kann sich zum Beispiel an Gefäßen
manifestieren: Sie ist die häufigste Ursache der
arteriellen peripheren Durchblutungsstörung. Dem
Schweregrad entsprechend gliedert man in vier Stadien.
Sie reichen von noch weitgehend intakter Blut- und
Sauerstoffversorgung über Bewegungs- und Ruheschmerzen
bis hin zu Hautnekrosen infolge von Gefäßverengungen
insbesondere in den unteren Extremitäten. Neben der
medikamentösen Therapie verspreche in Stadium II
(Claudicatio intermittens mit Bewegungsschmerzen) eine
aktive Bewegungstherapie bis hin zur Schmerzgrenze
Erfolge, so Höfling. Durch die reaktive Hyperämie
bildeten sich Kollateralen, also gewissermaßen
Umleitungsblutbahnen, aus.
Höfling vertritt die Meinung, daß sich Arzneimittel wie
Vasodilatantien, Fibrinolytika oder
Viskositätserniedriger zur Erstbehandlung nicht
etabliert hätten. Sie seien eher bei Restenosen
indiziert. Nur bei etwa einem Drittel der Operierten
zeigten sich Rezidivstenosen.
Atherosklerotischer Plaque kann sich auch an den
Koronararterien festsetzen. Folgen sind ischämische
Erkrankungen wie koronare Herzkrankheit (KHK), Angina
pectoris und Herzinfarkt. In jedem Falle liegt eine
Diskrepanz zwischen Sauerstoffangebot und
Sauerstoffverbrauch vor. Höfling: "Die Antianginosa
(Nitrate, Betablocker und Calcium-Antagonisten) haben
sich in der Therapie bewährt, sie verbessern die
Symptome." Aber es sei nicht erwiesen, daß sie
Leben verlängern. Nach Höfling zeichnet sich folgender
Trend ab: Bei akuten Beschwerden entscheide man sich
heute zunehmend für einen operativen Eingriff. Die PTCA
(percutane transluminale koronare Angioplastie,
Ballonkatheterverfahren) oder die Lyse greifen an einem
früheren Zeitpunkt ein als Medikamente, nämlich direkt
an der Plaquesruptur. Antianginosa intervenieren erst bei
der abnehmenden Koronardurchblutung. Die PTCA sei sogar
schon ambulant möglich.
PZ-Artikel von Elke Wolf, Heidelberg
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