Rot, farblos oder grün? |
19.11.2001 00:00 Uhr |
von Holger Reimann, Eschborn
Wenn er wüsste, was der nach ihm benannten Lösung im Laufe der Zeit widerfahren ist, Professor Aldo Castellani würde sich wahrscheinlich im Grabe herumdrehen. Der aus Italien stammende Tropenarzt, Dermatologe und Wissenschaftler hatte in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts aus der mikrobiologisch verwendeten Karbol-Fuchsin-Lösung eine vielseitig anwendbare Farbstofflösung für die Hauttherapie entwickelt (1, 2).
Die dem Original wohl am nächsten kommenden Rezepturen nach Schönfeld (1) beziehungsweise den Deutschen Rezeptformeln (DRF) und dem Formularium Helveticum des Schweizerischen Apothekervereins enthielten die vier ursprünglichen Arzneistoffe, Phenol, Fuchsin, Resorcin und Borsäure. Solutio Castellani wirkte deshalb unter anderem juckreizstillend (neurotoxische Wirkung von Phenol und Resorcin), keratolytisch (Phenol, Resorcin), antibakteriell (Fuchsin, Phenol, Resorcin), pH-senkend (Borsäure, Fuchsin), adstringierend/austrocknend (Fuchsin), antimykotisch (Fuchsin; gegen Hefen auch Borsäure) (3). Die entquellende Wirkung wurde sicherlich durch die ethanolisch-acetonisch-wässrige Grundlage unterstützt, wobei unklar ist, mit welcher Intention man Aceton zusetzte.
Solutio "Michel grün" (7)
Chlorocresol
0,05 g
Aceton
7,5 g
Resorcin
7,5 g
Natriumedetat
0,01 g
Wasser für Injektionszwecke
32,9 g
Brillantgrün-Stammlösung
2,0 g
Kein Arzneistoff ist unumstritten
In die kritische Diskussion um unerwünschte Arzneimittelwirkungen, die zu einer Vielzahl von Rezepturvarianten der Castellanischen Lösung führte, kam als erstes das Fuchsin. Der Neumonographierung als "Farblose Castellanische Lösung" im NRF fielen 1983 zugleich die heute als "bedenklich" eingestuften Bestandteile Phenol und Borsäure zum Opfer (3). Verständlicherweise war die antimikrobielle Wirkung der Fuchsin-freien Lösung schwächer (2), so dass 1985 doch wieder eine "rote" Variante ins NRF aufgenommen wurde. Auch andere mehr oder weniger "abgespeckte" Lösungen hatten als "Solutio Castellani sine Acido borici" und "Solutio Castellani sine Fuchsino et sine Acido borici" noch jahrelang Bedeutung (3). Die Erkenntnis, dass sowohl das als Ersatz für Phenol enthaltene Chlorocresol als auch das negativ monographierte Resorcin in zeitgemäßen Dermatika als Arzneistoffe nun wirklich obsolet sind (3), führte 1996 zur Streichung der Castellanischen Lösungen im NRF.
Ersatzrezepturen
Im NRF enthalten ist statt dessen seither eine ethanolisch-wässrige Fuchsin-Lösung (3), die aber beim besten Willen nicht mehr als "Castellani-Lösung" bezeichnet werden kann. Weniger Skrupel hatte da ein Fertigarzneimittel-Hersteller, indem er die Bezeichnung für einen Miconazol-Spiritus vereinnahmte (4). Verständlicherweise können solche Lösungen das breite Spektrum der Wirkungen des Originals ebenso wenig abdecken wie die für die kutane Anwendung vorgesehenen Chlorhexidin-haltigen Ersatzrezepturen (5). Insbesondere gilt dies für die Anwendungen im Gehörgang, bei denen es auch auf die entquellende und juckreizstillende Wirkung ankommt und Chlorhexidin kontraindiziert ist (3). Auch Miconazol-, Clotrimazol-, Aluminiumacetat-tartrat- oder propylenglycolische Essigsäure-Ohrentropfen sind nur ein unvollkommener Ersatz (3).
Bedarf in der HNO-Heilkunde
Unbeeindruckt von der aus pharmazeutischer und dermatologischer Sicht eigentlich als abschließend betrachteten Diskussion um bedenkliche und negativ beurteilte Arzneistoffe empfiehlt eine einschlägige Therapieleitlinie der HNO-Medizin (6) immer noch "Castellani-Rot". Vor diesem Hintergrund führte ein offensichtliches Missverständnis zur Publikation dieser Rezeptur (7): Fälschlicherweise ging der Autor auf Grund von Veröffentlichungen zu aromatischen Aminen als Syntheseverunreinigungen (3) davon aus, Fuchsin sei für die Apotheke nicht in der erforderlichen Qualität erhältlich, wohl aber Brillantgrün. Genau das Gegenteil ist heute der Fall (3, 8). Zwar dürfte eine konzentrierte alkoholische Lösung eines guten, für technische Zwecke bestimmten Brillantgrün weitgehend frei von Schwermetallen sein, jedoch fehlt Apotheken die formale Qualitätsbestätigung. Konsequent ist deshalb die zur Herstellung von "Michel grün" (7) benötigte zehnprozentige Stammlösung, die ehemalige NRF-Vorschrift S.15., bereits 1996 gestrichen worden (3). Zurzeit kommen insofern Herstellung und Abgabe der Rezeptur nicht in Frage.
Was tun?
Zahlreiche Anfragen beim NRF sind ein Indiz für das aktuelle Interesse. Nun könnte möglicherweise Bewegung in die seit Jahren festgefahrene Situation bringen. Wird ein Lieferant nach Fuchsin und Methylrosaniliniumchlorid künftig auch diesen Farbstoff in DAC-konformer, durch Prüfzertifikat bestätigter Qualität anbieten? Oder gleich in Form der alten NRF-Stammlösung? Selbstverständlich sollte dem verordnenden HNO-Arzt vorerst eine geeignete Alternative zur Brillantgrün-haltigen Chlorocresol-Resorcin-Rezeptur vorgeschlagen werden, nur eine nicht: Solutio Castellani.
Literatur
Anschrift des Verfassers
Dr. Holger Reimann
Neues Rezeptur-Formularium
Pharmazeutisches Laboratorium
Carl-Mannich-Straße 20
65760 Eschborn
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