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Ganz normale Wechselwirkungen

23.06.2003  00:00 Uhr
Polypharmazie in der Psychiatrie

Ganz normale Wechselwirkungen

von Brigitte M. Gensthaler, Regensburg

Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen nehmen oft mehrere Arzneimittel ein. Vielfach kommen weitere chronische Leiden hinzu, die ebenfalls medikamentös behandelt werden. Grunderkrankungen, Missbrauch von Konsumgiften und die Fülle verordneter Arzneimittel können erheblich miteinander wechselwirken.

Diabetes, Asthma, koronare Herzkrankheit, Leberschäden, eingeschränkte Nierenfunktion, Alkohol- und Nikotinmissbrauch: Psychiatrische Patienten spiegeln in ihren Begleiterkrankungen und Konsumgewohnheiten die gesamte Bevölkerung wider. Brauchen sie dann zusätzlich hoch potente psychiatrische Medikamente, können zahlreiche Wechselwirkungen entstehen. „Multimorbide Patienten haben für die Psychiatrie eine besondere Bedeutung“, sagte Professor Dr. Ekkehard Haen, Leiter der Klinischen Pharmakologie und Psychopharmakologie am Bezirksklinikum Regensburg, zu Beginn des 3. Regensburger Symposiums zur Klinischen Pharmakologie. Diese Disziplin fungiere wie eine fachübergreifende Klammer zwischen den arzneimittelanwendenden medizinischen Spezialfächern.

Eine Polypharmazie ist bei psychisch kranken, multimorbiden Menschen eher die Regel als die Ausnahme, stellte Professor Dr. Christoph Hiemke, Mainz, fest. Bei einer Stichtagserhebung der Daten von knapp 1150 Patienten nahmen 84 Prozent mehr als ein Medikament ein. Wie die Beobachtung von 178 Patienten über mehr als zwei Jahrzehnte in den USA zeigte, nimmt der Trend zur Polymedikation zu. Während in den Jahren 1980 bis 1985 nur 9,3 Prozent der Patienten mit mehr als drei Arzneimitteln aus der Klinik entlassen wurden, waren es im Zeitraum von 1990 bis 1995 bereits mehr als 43 Prozent.

Kinetische Interaktionen häufiger

Zahlenmäßig überwiegen pharmakokinetische Wechselwirkungen. Wird der Abbau eines Wirkstoffs durch einen anderen gehemmt, resultieren höhere Blutspiegel mit möglichen Nebenwirkungen. Ist der Abbau in Folge einer Enzyminduktion beschleunigt, entstehen womöglich keine therapeutisch wirksamen Plasmaspiegel oder diese sinken zu rasch ab. Da viele Arzneistoffe über das Cytochrom-P450-System (CYP) verstoffwechselt werden, wird bei neuen Wirkstoffen untersucht, ob und wenn ja, welche CYP-Isoenzyme betzeiligt sind. Mit diesem Wissen kann man potenzielle Interaktionen vorhersagen. Jedoch ist bei etwa der Hälfte der Arzneistoffe, vor allem bei älteren Substanzen, bislang nicht genau bekannt, welche Enzyme am Abbau beteiligt sind.

Pharmakodynamische Interaktionen können immer dann auftreten, wenn zwei Stoffe am selben Rezeptor, Organ, Regelkreis oder Zielzellen angreifen. Wegen möglicher schwerwiegender additiver Effekte ist beispielsweise die Kombination eines selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers (SSRI; Beispiel Fluoxetin) mit einem Monoaminoxidase-Hemmstoff (Beispiel Moclobemid) kontraindiziert. Da der MAO-Hemmer den Abbau von Monoaminen im synaptischen Spalt blockiert, können toxische Serotonin-Konzentrationen im Gehirn entstehen (Serotonin-Syndrom).

Hiemke nannte als „Extrembeispiel“ einen depressiven Patienten, der nach Gabe von Amitriptylin und Fluoxetin durch Herzstillstand starb. Der SSRI ist ein starker Inhibitor der Isoenzyme CYP 2D6 und 3A4. Bekannt ist, dass SSRI die Plasmaspiegel von Trizyklika und Neuroleptika deutlich erhöhen können. Im Blut des Patienten fand man toxische Amitriptylin-Konzentrationen, obwohl beide Stoffe in therapeutischer Dosis gegeben worden waren.

Nützliches Werkzeug TDM

Wechselwirkungen können auch positiv sein, wenn sie gezielt therapeutisch genutzt werden, erklärte Hiemke. So hemmt der SSRI Fluvoxamin den oxidativen Abbau von Neuroleptika wie Clozapin; die Plasmaspiegel des atypischen Neuroleptikums können bis zum 10-fachen ansteigen. Mit niedrigeren Clozapin-Dosen könne man so ein ausgeglicheneres Plasmaprofil erreichen, sagte der Referent. Auch die Blutspiegel von Olanzapin werden durch den SSRI signifikant erhöht, während Sertralin keinen Einfluss hat. Ebenso könne Protonenpumpeninhibitor Pantoprazol die Olanzapin-Spiegel erheblich steigern.

Die Bestimmung der Arzneistoffkonzentrationen im Blut, das Therapeutische Drug Monitoring (TDM), sei ein hilfreiches Werkzeug, wenn Arzneistoffe mit klinisch relevantem Interaktionspotenzial parallel gegeben werden, riet der Referent. So sollte beispielsweise die Tagesdosis eines trizyklischen Antidepressivums oder eines Neuroleptikums bei gleichzeitiger SSRI-Gabe unter TDM-Kontrolle eingestellt werden.

 

Datenbanken zu Arzneimittelwechselwirkungen Datenbanken liefern wertvolle Informationen zu Wechselwirkungen. Hiemke nannte einige Beispiele. In der Offizin sind die Fachinformationen zu Fertigarzneimitteln am einfachsten zugänglich.

 

Alkohol: Die Menge macht's

Neben Arzneimitteln können auch Genussgifte wie Alkohol und Tabak Cytochrom-Enyzme beeinflussen und Arzneistoffwirkungen modifizieren. Beim Alkohol spielt die Trinkmenge eine wichtige Rolle, erklärte Dr. Norbert Wodarz, Leiter der Suchtabteilung im Klinikum Regensburg.

Missbrauch und Abhängigkeit von diesem „sozialen Pharmakon, das pharmakologisch gesehen ein schlechtes Narkotikum ist“, sind weit verbreitet: 1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind alkoholabhängig, etwa zehn Millionen betreiben riskanten Konsum oder Missbrauch.

Auch im Organismus kommt Ethanol vor: 0,02 bis 0,03 Promille gelten als physiologische Konzentration. Während Blutalkoholspiegel unter 1 Promille über die Alkoholdehydrogenase (ADH) via Acetaldehyd und Essigsäure abgebaut werden, ist bei höheren Spiegeln das Mikrosomale Ethanol-oxidierende System (MEOS), vor allem CYP 2E1, zuständig. Während kurze heftige Besäufnisse das Isoenyzm kompetitiv hemmen, wird es durch regelmäßiges Trinken induziert.

Chronischer Alkoholismus erhöht auch die Gefahr hepatotoxischer Substanzen. So entstehen beim Abbau von Arzneistoffen wie Paracetamol, Isoniacid, Enfluran oder Halothan sowie von industriellen Lösungsmitteln vermehrt lebertoxische Metaboliten.

Disulfiram (Antabus®) bremst den Alkoholabbau auf der Stufe von Acetaldehyd und löst damit heftige körperliche Reaktionen aus, die zur Aversion gegen Alkohol führen sollen. Diese als Antabus-Syndrom bekannten Unverträglichkeitsreaktionen können auch nach Gabe von oralen Antidiabetika, Antibiotika wie Cephalosporinen und Metronidazol, Chloralhydrat oder einigen Zytostatika auftreten, warnte Wodarz.

Mit den meisten Arzneistoffen wirkt Alkohol additiv. So nehmen Sedation, paradoxe Exzitationen und das Intoxikationsrisiko nach Benzodiazepin-Einnahme zu. Ebenso erhöht Alkohol die Gefahr der Sedation, von kardialen Arrhythmien und die Krampfbereitschaft nach Einnahme von tri- und tetrazyklische Antidepressiva, während die psychomotorische Leistung abfällt. Die Wechselwirkungen mit Neuroleptika seien wenig untersucht, jedoch steige das Risiko einer Leberschädigung, sagte Wodarz. Das Risiko gastrointestinaler Blutungen durch nicht-steroidale Antirheumatika oder ASS nehme im Verbund mit Alkohol deutlich zu.

Die kardiovaskulären Schadeffekte von Rauchen und Alkohol verstärken sich gegenseitig, ebenso steigt die Kanzerogenität der beiden Genussgifte. Tabakrauchen induziert das CYP-Isoenzym 1A2 und beeinflusst damit den Metabolismus vieler Arzneistoffe, unter anderem von Neuroleptika wie Clozapin und Olanzapin, Antiarrhythmika, Estradiol, Fluvoxamin und Ondansetron.

Dosis anpassen bei Leberzirrhose

Regelmäßiger Alkoholmissbrauch ruiniert bekanntlich die Leber. Etwa 8 bis 20 Prozent der Abhängigen entwickeln eine Leberzirrhose; etwa 120.000 bis 300.000 Menschen sind in Deutschland davon betroffen, berichtete der Arzt.

Der reduzierte Leberstoffwechsel verändert auch die Bioverfügbarkeit von Arzneistoffen. Bei Stoffen, die normalerweise stark über einen First-pass-Metabolismus abgebaut werden, steigen die Wirkspiegel stark an. Hier muss die Initialdosis auf 25 bis 50 Prozent der Normdosis gesenkt werden. Da durch den geringeren portalen Blutfluss auch weitere Metabolisierungsreaktionen in der Leber abnehmen, muss die Erhaltungsdosis reduziert werden. Das Risiko einer Kumulation besteht beispielsweise bei Antidepressiva, Benzodiazepinen, Betablockern, Calciumantagonisten und Morphin.

Auch für pharmakodynamische Wechselwirkungen sind Patienten mit Leberzirrhose besonders empfänglich. Wodarz nannte Elektrolytentgleisungen nach Furosemid, die steigende ZNS-Sensitivität gegenüber allen Psychopharmaka sowie die erhöhte Lebertoxizität von Paracetamol. Sein Rat für die Therapie dieser Patienten: vorsichtig dosieren bei Erst- und Erhaltungstherapie. Top

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