Pharmazie
Depressionen haben ein
vielgestaltiges Krankheitsbild und sind mitunter
lebensgefährlich. Nicht nur die Suizidrate steigt
massiv, auch die körperlichen Symptome der Depression
erhöhen die Gesamtmortalität. Die Prävalenz in der
Bevölkerung beträgt fünf bis zehn Prozent - keine
seltene Krankheit also. Etwa drei Viertel der Patienten
werden von Allgemeinärzten behandelt, und nur ein Teil
von ihnen erhält Antidepressiva.
Diese Ergebnisse aus den deutschen Daten einer
WHO-Studie nannte Professor Dr. Markus Gastpar, Essen,
bei der Einführungspressekonferenz von Sertralin in
München. Die Substanz ist der fünfte Vertreter der
selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI:
selective serotonin re-uptake inhibitor) zur Therapie
depressiver Erkrankungen.
Als Ursache der Depression gelten Störungen in
Neurotransmittersystemen, vor allem im noradrenergen und
serotonergen System. Es wurden daher Substanzen gesucht,
die die adrenerge und serotonerge Transmission ähnlich
beeinflussen wie die trizyklischen Antidepressiva (TCA),
jedoch ohne deren Nebenwirkungen. Neu im Markt sind
Venlafloxin, ein Serotonin- und
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, sowie der
a2-Antagonist Mirtazepin, der indirekt Serotonin und
Noradrenalin verstärkt. Die Suche nach selektiven SSRI
hat nach Fluoxetin, Fluvoxamin und Paroxetin zu den
Arzneistoffen Citalopram und Sertralin geführt.
Kaum pharmakologische Unterschiede
In der Pharmakologie ähneln sich die SSRI sehr
stark, zeigte Professor Dr. Walter E. Müller aus
Frankfurt. Die SSRI blockieren das Transporterprotein,
das Serotonin aus dem synaptischen Spalt zurück in das
präsynaptische Neuron bringt; damit steigt der
Serotoningehalt im synaptischen Spalt. Sertralin hemmt
die Wiederaufnahme von Serotonin etwa 840mal stärker als
die von Noradrenalin.
Alle SSRI haben keine oder nur eine sehr geringe
Affinität zu anderen Rezeptoren, zum Beispiel a1-, a2- ,
ß-Adrenozeptoren, Dopamin- oder Histamin-Hl-Rezeptoren.
Sie haben keine anticholinergen Effekte und lösen daher
keine Obstipation oder trockenen Mund aus (wie TCA). Die
Nebenwirkungen sind gruppenspezifisch und erklärbar
durch Hemmung der Serotoninaufnahme: gastrointestinale
Störungen, Unruhe und Schlafstörungen,
Appetitminderung, Kopfschmerzen und sexuelle
Funktionsstörungen.
SSRI dürfen nie kombiniert werden mit serotonergen
Arzneistoffen wie MAO-Hemmern um das Auftreten eines
Serotoninsyndroms zu vermeiden. Günstig ist ihre sehr
geringe Toxizität, erklärte Professor Dr. Hans-Jürgen
Möller, München. Bei einer Einnahme von 8 g in
suizidaler Absicht wurde keine ernsthafte systemische
Toxizität beobachtet. Dennoch empfahl der Psychiater bei
agitierten suizidgefährdeten Personen den Zusatz eines
Tranquilizers (Benzodiazepin).
Antagonist am Sigma-Rezeptor
Einen neuen Aspekt könnte Sertralin durch seine
Interaktion mit Sigma-Rezeptoren bieten. Es bindet
relativ stark an diesen Opioidrezeptor-Subtyp und wirkt
antagonistisch. Möglicherweise erklärt dies die gute
Wirksamkeit bei wahnhaften Depressionen, die laut Möller
meist die Kombination von Antidepressivum und
Neuroleptikum erfordern; Sertralin wirkt hier besser als
Paroxetin. Bei anderen depressiven Symptomen ist die
Wirksamkeit von Sertralin vergleichbar mit anderen SSRI.
Etwa 60 Prozent der Patienten sprechen auf eine
Tagesdosis von 50 mg an, eine Dosissteigerung bringt nach
Möllers Erfahrungen keine wesentlichen Vorteile. Erst
nach einer Therapiephase von vier bis sechs Wochen kann
ein (Nicht-)Ansprechen beurteilt werden. In Studien war
die Substanz auch bei saisonaler Depression, Dysthymie
und prämenstruellen dysphorischen Störungen wirksam.
Der erzielte antidepressive Effekt bleibt bei einer
Erhaltungstherapie (Dosierung beibehalten) bestehen; alle
SSRI sind rezidivprophylaktisch wirksam, aber nicht
zugelassen zur Prophylaxe.
Brigitte M. Gensthaler, München
© 1996 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de