Anagrelid, Darifenacin, Loteprednoletabonat und Porfimer |
31.01.2005 00:00 Uhr |
Neu auf dem Markt
Vier neue Arzneistoffe bereichern den Markt, darunter ein Imidazoquinazolin zur Behandlung essentieller Thrombozythämie, ein Muscarin-Rezeptorantagonist zur Therapie der überaktiven Blase, eine Augentropfensuspension bei Entzündungen nach operativen Eingriffen am Auge sowie ein Arzneistoff zur photodynamischen Therapie.
Anagrelid
Mit Anagrelid steht ein neuer Wirkstoff für Risikopatienten mit essenzieller Thrombozythämie zur Verfügung, wenn diese ihre bisherige Therapie nicht vertragen oder nicht ausreichend darauf ansprechen. Anagrelid, ein Imidazo-Chinazolin-Derivat, senkt die erhöhte Thrombozytenzahl, indem es die Megakaryozytenreifung hemmt (Xagrid® 0,5 mg Hartkapseln, Shire Deutschland).
Blutplättchen entstehen durch zytoplasmatische Abschnürung aus den Megakaryozyten. Thrombozyten haben keinen Zellkern und sind die kleinsten und kurzlebigsten Blutzellen (Lebensdauer 8 bis 10 Tage). Ihre Zahl beträgt normalerweise 150 bis 300 x 109/L Blut; bei Werten unter dem unteren Grenzwert spricht man von Thrombozytopenie. Bei Werten über 400 x 109/L kommt es gehäuft zu mikrovaskulären Thrombosen. Bei Blutwerten über 1000 x 109/L treten wiederholte Hämorrhagien auf.
Die essenzielle Thrombozythämie (ET) ist eine gutartige myeloproliferative Erkrankung mit einer ständig erhöhten Plättchenzahl über 400 x 109/L. Betroffen sind häufig Patienten über 50 Jahren, die meisten haben zum Zeitpunkt der Diagnose keine Beschwerden. Andere erleiden hämorrhagische und thrombotische Erkrankungen wie transiente ischämische Attacken (TIA), Schlaganfall und Thrombosen der kleinen Gefäßen. Sehr selten entwickelt sich eine akute Leukämie.
Wie Anagrelid genau wirkt, ist nicht bekannt. Es scheint in die späte, postmitotische Phase der Megakaryozyten-Entwicklung einzugreifen und deren Reifung, Größe und Ploidie (Chromosomenzahl) zu beeinflussen. Ebenso inhibiert es die Phosphodiesterase-III, was zu erhöhten Spiegeln an cyclischem Adenosinmonophosphat (cAMP) in den Blutplättchen führt. In höheren Dosen hemmt Anagrelid auch deren Aggregation, wofür es ursprünglich entwickelt wurde. Der Arzneistoff wirkt thrombozytenselektiv und beeinflusste in Studien nicht die Bildung weißer und roter Blutkörperchen.
In vier offenen klinischen Studien mit mehr als 4000 Patienten mit myeloproliferativen Erkrankungen betrug die Zeit bis zum vollständigen Ansprechen – definiert als Senkung der Thrombozytenzahl auf unter 600 x 109/L oder als Halbierung des Ausgangswerts – vier bis zwölf Wochen. Ob die Patienten auch weniger thrombohämorrhagische Komplikationen erleiden, muss noch nachgewiesen werden.
Die empfohlene Startdosis beträgt 1 mg/Tag, verteilt auf zwei Gaben. Nach einer Woche wird die Dosis individuell so eingestellt, dass die Thrombozytenzahl konstant unter 600 x 109/L liegt (Idealwert zwischen 150 bis 400 x 109/L). Die maximale Einzeldosis beträgt 2,5 mg. Wird das Medikament abgesetzt, steigen die Plättchenzahlen innerhalb von 10 bis 14 Tagen wieder auf ihren Ausgangswert.
Das Blutbild des Patienten sowie Leber- und Nierenwerte müssen engmaschig überwacht werden. Da Anagrelid vasodilatierend und positiv inotrop wirkt, ist bei herzkranken Menschen Vorsicht geboten. Die häufigsten Nebenwirkungen in Studien waren Kopfschmerzen, Herzklopfen, Flüssigkeitsretention, Übelkeit und Durchfall.
Darifenacin
Mit Darifenacin (Emselex®, Bayer Vital) kam ein weiterer Muskarinrezeptor-Antagonist auf den Markt, der wie Solifenacin selektiv den Rezeptorsubtyp 3 hemmt. Zugelassen ist der Arzneistoff bei Erwachsenen zur symptomatischen Behandlung von Dranginkontinenz und/oder häufigem Wasserlassen und verstärktem Harndrang. Die empfohlene Anfangsdosis beträgt 7,5 mg einmal täglich; nach zwei Wochen kann die Dosis auf 15 mg erhöht werden. Dabei können die Patienten die Retardtabletten auch zur Mahlzeit einnehmen.
Antimuskarinerge Substanzen wirken bei überaktiver Blase, indem sie die Muskarinrezeptoren am Detrusor blockieren, das heißt, an der die Blase umschließenden glatten Muskulatur. Von den fünf Rezeptorsubtypen spielt bei der Blasenentleerung der Subtyp 3 die Hauptrolle. Da er weder in Herz noch Hirn zu finden ist, sind bei seiner Blockade weniger anticholinerge Nebenwirkungen zu erwarten.
Darifenacin wird im Körper schnell resorbiert, maximale Plasmakonzentrationen werden etwa sieben Stunden nach Einnahme, der Ssteady state in sechs Tagen erreicht. Auf Grund eines ausgeprägten First-pass-Effekts beträgt die absolute Bioverfügbarkeit im Steady state aber nur 15 bis 19 Prozent. Denn bereits in der Darmwand wird das Anticholinergikum intensiv über Cytochrom CYP3A4, in der Leber über CYP3A4 und CYP2D6 metabolisiert. Da die Isoenzyme einer gewissen Sättigung unterliegen, ist die Pharmakokinetik im Ssteady state dosisabhängig. Als lipophile Base liegt Darifenacin zu 98 Prozent an Plasmaproteine gebunden vor. Nur 3 Prozent werden unverändert, die Metaboliten im Verhältnis 60:40 über Urin und Fäces ausgeschieden.
Wegen seiner ausgeprägten Metabolisierung sollte Darifenacin nicht mit starken CYP3A4-Hemmstoffen wie Protease-Hemmern, Ketoconazol oder Itraconazol oder mit starken P-Glycoprotein-Hemmstoffen wie Ciclosporin und Verapamil eingenommen werden. Bei gleichzeitiger Anwendung von CYP2D6- oder mäßigen CYP3A4-Hemmstoffen soll die Dosis nur gesteigert werden, wenn die Behandlung gut vertragen wurde.
Die klinische Wirksamkeit von Darifenacin wurde in mehreren randomisierten, multizentrischen Doppelblindstudien mit vergleichbarem Design gegenüber Placebo getestet. In der größten Phase-III-Studie erhielten 561 erwachsene Patienten, die seit mindestens sechs Monaten unter Symptomen einer überaktiven Blase litten, entweder täglich 3,75 mg, 7,5 mg oder 15 mg Wirkstoff oder Placebo über zwölf Wochen. Sowohl die Dosierung mit 15 mg als auch mit 7,5 mg waren Placebo signifikant überlegen, wobei der Effekt nach zwei Wochen eintrat. Nach zwölf Wochen konnte die Therapie die Anzahl der wöchentlichen Inkontinenzepisoden gegenüber dem Ausgangswert um 73 beziehungsweise 68 Prozent senken (Placebo: 56 Prozent). Auch die sekundären Endpunkte wie Miktionshäufigkeit, Blasenkapazität sowie Häufigkeit und Schwere des Harndrangs verbesserten sich signifikant unter Verum, ebenso wie die Lebensqualität der Patienten. In einer kleinen zweiwöchigen Cross-over-Studie war die einmal tägliche Gabe von 15 mg Darifenacin ebenso wirksam wie die von dreimal täglich Oxybutynin. Eine weitere Studie zeigte auch die Wirksamkeit bei Nykturie.
Da M3-Rezeptoren auch in der glatten Muskulatur des Darms, in Speicheldrüsen und im Auge vorkommen, klagten Patienten unter der Behandlung vor allem über Obstipation (jeweils 14 gegenüber 7 Prozent) und Mundtrockenheit (19 beziehungsweise 31 Prozent gegenüber 9 Prozent), die unter Oxybutynin jedoch deutlich häufiger war. Auch trockene Augen, Kopf- und Bauchschmerzen sowie Übelkeit traten auf. Zumeist waren die Nebenwirkungen aber leicht oder mäßig schwer, cardiovaskuläre und ZNS-Nebenwirkungen, wie Schwindel, Somnolenz oder kognitive Störungen, lagen auf Placeboniveau. Verschwommenes Sehen wie unter Oxybutynin trat nicht auf.
Loteprednoletabonat
Zur Behandlung von Entzündungen nach operativen Eingriffen am Auge kam die Augentropfensuspension mit dem Corticosteroid Loteprednoletabonat (5 mg/ml) auf den Markt (Lotemax®, Dr. Gerhard Mann Pharma). Der Arzneistoff gehört zu einer neuen Klasse von Corticosteroiden mit stark entzündungshemmender Wirkung direkt am Applikationsort, aber mit geringerem Potenzial, den Augeninnendruck zu steigern.
Loteprednoletabonat ähnelt strukturell dem Prednisolon und wurde aus dem inaktiven Hydrocortison-Metaboliten D1-Cortiensäure entwickelt. Es ist ein 17b-Chloromethylester, dem unter anderem die Ketogruppe an C-20 fehlt, die mit der Entstehung von Katarakten in Verbindung gebracht wird. Nach der Applikation wird der hoch lipophile Ester, der gut in die Cornea penetriert, rasch zu den inaktiven Metaboliten D1-Cortiensäure-Etabonat und D1-Cortiensäure gespalten. In einer Bioverfügbarkeitsstudie mit 14 Probanden, die das Medikament zwei Tage achtmal täglich und dann 42 Tage zweimal täglich eintropften, lagen die systemischen Spiegel des Wirkstoffs und seines Hauptmetaboliten unter der Nachweisgrenze.
Die klinischen Studien zur Wirksamkeit stammen allerdings entweder aus den 1990er-Jahren oder sind nicht in wissenschaftlichen Journalen veröffentlicht. In zwei Studien bei 424 Patienten mit Entzündungen nach Kataraktoperation mit Linsenimplantation war der Arzneistoff einem Placebo signifikant überlegen: Die Entzündung sowie objektive und subjektive Symptome klangen schneller ab. In einer zusammenfassenden, 1998 publizierten Analyse von 2210 Patienten, die Steroid-Augentropfen in Studien länger als 28 Tage anwendeten, wurde das Risiko einer Augendrucksteigerung (10 mmHg oder mehr) erfasst. Betroffen waren 2 Prozent der Patienten unter Loteprednoletabonat, 0,5 Prozent unter Placebo und 7 Prozent unter Prednisolonacetat.
Häufige Nebenwirkungen am Auge sind Sehstörungen, Jucken und Brennen, tränendes oder trockenes Auge, Fremdkörpergefühl oder Photophobie. Die Tropfen dürfen laut Fachinformation nicht länger als zwei Wochen appliziert werden. Wie alle Augentropfen muss ein geöffnetes Fläschchen nach vier Wochen weggeworfen werden.
Porfimer
Porfimer (Photofrin® Trockensubstanz zur Injektion, Meduna) ist nach Verteporfin bei der feuchten Makuladegeneration und Temoporfin zur palliativen Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenem Plattenepithelkarzinom im Kopf- und Halsbereich die dritte Substanz, die zur photodynamischen Therapie zur Verfügung steht. Sie ist zugelassen für die kurative Behandlung von Patienten mit histologisch gesichertem nicht kleinzelligen, endobronchialen Frühkarzinomen (NSCLC), die einer chirurgischen oder radiotherapeutischen Therapie nicht zugänglich sind.
Wie die beiden anderen Substanzen handelt es sich bei Porfimer um ein Porphyrinringsystem, das sich nach intravenöser Applikation an LDL gebunden im Tumorgewebe ansammelt und nach endoskopischer Bestrahlung mit nicht-thermischem roten Laserlicht (630 nm) Singulettsauerstoff produziert. Singulettsauerstoff ist stark zelltoxisch. Er bewirkt einen Abbau von Lipiden in der Zellmembran und indiziert einen Infarkt im Tumor. Die Neoangiogenese wird gestoppt. Durch die Freisetzung von Cytochrom C werden die Tumorzellen in die Apoptose getrieben.
In klinischen Studien konnte die Wirkung eindrucksvoll nachgewiesen werden. So erreichte die Studiengruppe um Kato et al. in Tokio mit der Porfimer-Therapie bei 83 Prozent von 75 Patienten mit frühem, nicht operablem NSCLC eine komplette Tumoreradikation. Diese Rate liegt deutlich über den Ergebnissen, die mit anderen nicht chirurgischen Maßnahmen erreicht werden können. Auch in der palliativen Therapie bei NSCLC-Patienten mit Metastasen zeigte die photodynamische Therapie mit Porfimer eine Reduktion der tumorbedingten Symptomatik und eine Verbesserung der Lebensqualität. Als weitere Indikation scheinen sich die fortgeschrittenen, inoperablen Stadien des Gallenwegskarzinoms anzubieten. Eine Zulassung für diese Indikation besteht zurzeit allerdings noch nicht.
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