Pharmazie 1 |
11.03.2002 00:00 Uhr |
Um an seinen Wirkort zu gelangen, muss ein Arzneistoff Grenzen überwinden: zum Beispiel das Epithel des Gastrointestinaltrakts (GIT), die Plazenta- oder die Blut-Retina-Schranke. Wie gut sie dies können, testete man bisher hauptsächlich in Tierversuchen oder tierverbrauchenden Experimenten. Das unnötige Töten versuchen Forscher nun mit geeigneten In-vitro-Modellen zu vermeiden und züchten daher spezielle Testbarrieren.
Die Plazenta ist die "Schnittstelle" zwischen Mutter und Kind, erklärte Kenneth L. Audus von der University of Kansas beim vierten internationalen Workshop "Cell Culture and In-vitro-Models for Drug Absorption and Delivery" vom 20. Februar bis 1. März im Institut für Biopharmazie und Pharmazeutische Technologie der Universität Saarbrücken. Die Plazenta dient vor allem dem Austausch zwischen mütterlichen und fetalen Blut. Sie versorgt zum einen das heranwachsende Kind mit Nährstoffen und Sauerstoff und transportiert außerdem die Stoffwechselendprodukte ab. Dabei besteht allerdings kein direkter Kontakt zwischen den beiden Kreisläufen. Die fetalen Blutgefäße baden lediglich im mütterlichen Blut. Das bedeutet, dass alle Substanzen, die aufgenommen beziehungsweise abgegeben werden sollen, durch die Epithelzellen der kindlichen Blutgefäße gelangen müssen. Es existiert also eine spezielle Barriere, die so genannte Plazentaschranke, die den Nährstoff- und Fremdstoffaustausch überwacht. Sie besteht aus einer einzelligen Schicht von vielkernigen Zellen, den Syncytiotrophoblasten.
Die Barriere zwischen Mutter und Kind wurde lange Zeit von der Wissenschaft vergessen oder ignoriert, sagte Audus. Erst seit etwa vier Jahrzehnten erforschen Wissenschaftler ihre Grundlagen. Für das Überschreiten der Barriere gelten die gleichen Regeln wie für andere Membranen auch: So hängt die Passage von der Lipidlöslichkeit, Größe und Ladung der Moleküle sowie deren Proteinbindungskapazität ab. Die Plazentaschranke ist neben Nährstoffen und Gasen auch für Elektrolyte, Antikörper, Viren und einige Medikamente durchlässig. Dies zeigte das Beispiel Thalidomid (Contergan) drastisch. Früher hatte man angenommen, dass die Barriere "undicht" ist, aber mittlerweile hat sich herausgestellt, dass sie viele aktive Transportsysteme besitzt, die für den Stoffaustausch verantwortlich sind, berichtete der Wissenschaftler.
Im Idealfall sollte man nur eine Schwangere und nicht ihr Kind behandeln, so Audus. Den Übertritt von Substanzen kann man zwar nicht verhindern, aber zumindest sollten Wissenschaftler rechtzeitig feststellen, welche Wirkstoffe die Plazentaschranke passieren und so eventuell den Keim gefährden können. Hierfür braucht man gute In-vitro-Testsysteme, um die Eigenschaften der Barriere zu simulieren. Denn die Plazenta selbst eignet sich nicht gut für Untersuchungen, da sie direkt nach der Geburt des Kindes abstirbt und somit nur wenige Stunden für Tests zur Verfügung steht. Zellkulturen bieten da eine sinnvolle Alternative. Besonders geeignet ist die immortalisierte Zelllinie BeWo, bei der es sich um Choriokarzinomzellen handelt. Diese menschlichen Krebszellen bilden in Kultur nach vier bis fünf Tagen kontinuierliche, polarisierte, einzellige Schichten. Da es sich bei den BeWo-Zellen um Trophoblasten handelt, kann man an den Zellschichten den gerichteten Transport durch die Plazentaschranke untersuchen. So weist die Zelllinie morphologische Eigenschaften der Trophoblasten auf, exprimiert typische Markerenzyme und sezerniert wie diese Zellen Hormone. In-vitro-Ergebnisse wurden allerdings noch nicht mit In-vivo-Daten verglichen, musste Audus zugeben. Als einziges In-vivo-Modell würde sich die Ratte eignen, ansonsten wären die Unterschiede der an der Plazentaschranke beteiligten Zellen zwischen den einzelnen Tierarten zu groß.
Blut-Retina-Schranke
Über eine weitere spezielle Barriere - die Blut-Retina-Schranke - sprach Professor Dr. Türkam Eldem von der Hacettepe Universität in Ankara. Auch die Photorezeptoren in der Netzhaut haben keinen direkten Kontakt zu Blutgefäßen, sondern werden indirekt von zwei Seiten aus versorgt. Dies ist durch ihre "versteckte" Lage in der Netzhaut zu erklären: Die Fotorezeptoren sitzen dem retinalen Pigmentepithel (RPE) auf, das wiederum auf der Bruchschen Membran liegt. Die Bruchsche Membran bildet den Abschluss der Netzhaut gegenüber der darunter liegenden Aderhaut (Choroidea), die zahlreiche Blutgefäße enthält. Sie versorgt die Photorezeptorzellen mit Nährstoffen und Sauerstoff. Die Substanzen müssen allerdings erst durch das retinale Pigmentepithel gelangen, um die Sinneszellen zu erreichen. Somit bilden die RPE-Zellen den äußeren Teil der Blut-Retina-Schranke. Sie transportieren Nährstoffe wie Vitamin A zu den Rezeptorzellen und die Stoffwechselabbauprodukte zurück zu den Choriokapillaren in der Aderhaut.
Den inneren Teil der Blut-Retina-Schranke bilden die retinalen Endothelzellen, die die Blutgefäße des Retinakreislaufes auskleiden . Diese Endothelzellen sind besonders dicht durch enge Zell-Zell-Verbindungen, so genannte "tight junctions", verbunden und somit undurchlässig. Daher muss jeder Stofftransport durch die retinalen Endothelzellen hindurch erfolgen. Die Blut-Retina-Schranke ist ausgesprochen wichtig, um die physiologische Funktion der Netzhaut aufrecht zu erhalten: Sie verhindert, dass toxische Substanzen und Komponenten des Serums die Retina erreichen. Außerdem begrenzt sie den parazellulären Eintritt von Ionen und Metaboliten, die den undichten Choriokapillaren entkommen, erläuterte Eldem. Damit erschwert sie aber auch, dass systemisch verabreichte Medikamente die Retina erreichen.
Gut charakterisierte Kulturen von retinalen Pigmentepithelzellen und retinalen Endothelzellen als Modelle der inneren und äußeren Schranke sind wichtig, um den Transport, Metabolismus und die Toxizität von Wirkstoffen untersuchen zu können. Zusammen mit dem ophthalmologischen Institut ihrer Universität hat die Arbeitsgruppe der Wissenschaftlerin begonnen, retinale Pigmentepithezellen zu kultivieren. Eine Reihe von Zelllinien verschiedener Tierarten wie Rind, Kaninchen, Ratte, Huhn und Schwein sowie vom Menschen steht bereits zur Verfügung. Die humane, immortalisierte Zelllinie D407 zum Beispiel bildet auf Filtermembranen einzellige Schichten aus, die für Transportuntersuchungen gut geeignet sind.
Das Caco-2-Modell
"Die meisten Entwicklungskandidaten scheitern an ihrer schlechten Pharmakokinetik", erklärte Dr. Jochen Maas von Aventis Pharma in Frankfurt. Daher ist es wichtig, die Absorption von potenziellen Wirkstoffen schon sehr früh in der Entwicklung zu testen. Ein geeignetes, in der pharmazeutischen Industrie vielfach angewandtes Verfahren ist das Caco-2-Modell (Carcinoma Colon). Die Zellen der Dickdarmtumor-Zelllinie bilden eine epithelartige Monolayer, die durch tight junctions eng verbunden ist und somit die Barriere des Gastrointestinaltraktes (GIT) imitiert. Das Caco-2-Modell ist dem Epithel auch in sofern ähnlich, als die Zellen über Effluxpumpen, alle bisher bekannten Carrier-Systeme und einige Phase-1- und Phase-2-Enzyme des Metabolismus verfügen. "Das Caco-2-Modell ist mehr als ein schlichtes Diffusionsmodell", erklärte der Referent.
Mit diesem System kann man rund 50 Substanzen pro Woche testen. Durch ein automatisiertes Verfahren lässt sich der Durchsatz sogar noch erhöhen. Ein Nachteil des Modells ist allerdings, dass es weder durchblutet ist, noch über eine Mukusschicht verfügt oder Hormone sezerniert. Alle diese Faktoren können aber die Absorption beeinflussen. Außerdem handelt es sich bei der Zelllinie um Tumorzellen aus dem Dickdarm, weshalb das Modell die Absorption im Dünndarm nur bedingt wiedergibt. Im Augenblick forsche man an speziellen Dünndarm-Modellen, bisher existierten aber keine funktionstüchtigen, so Maas. Die zu untersuchenden Substanzen müssen beim Caco-2-Modell außerdem gelöst vorliegen, weshalb man verschiedene Formulierungen nur bedingt testen kann, erklärte der Referent. "Es ist kein perfektes Modell, aber es ist das einzige das wir haben."
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