Wenn Zytostatika ins Gewebe austreten |
02.02.2004 00:00 Uhr |
Paravasate als schwer wiegende Komplikationen einer Chemotherapie sind nicht selten. Mit ihren Kenntnissen zu Zytostatika und in der Pharmazeutischen Betreuung von Krebspatienten können Apotheker und PTAs hier die Prävention und Therapie unterstützen. Denn im Notfall muss sofort und gezielt gehandelt werden.
Auf dem onkologisch-pharmazeutischen Fachkongress „Norddeutscher Zytostatika-Workshop“ vom 23. bis 25. Januar waren diesem Thema daher nicht nur ein Vortrag, sondern auch zwei Workshops gewidmet. „Paravasatbehandlung bedeutet Schadensbegrenzung“, sagte Jürgen Barth, Apotheker am Universitätsklinikum in Essen.
Lokaler Gewebstod
Paravasate entstehen, wenn Zytostatika entweder neben ein Blutgefäß gelangen oder durch ein Blutgefäß hindurch in das umliegende Gewebe austreten. Das kann direkt bei der Injektion, aber auch beim Verlegen des Zugangs während einer Infusion geschehen. Je nach arzt- und patientenabhängigen Risikofaktoren sind 0,1 bis 6 Prozent aller Patienten betroffen, so der Referent.
Barth betonte, dass Art und Ausmaß der lokalen Schädigung nicht nur von der Hypersensivität des Patienten, vom pH-Wert der injizierten beziehungsweise infundierten Lösung oder ihrer Osmolarität und Menge, sondern auch von speziellen Substanzeffekten abhängt. Der Referent unterschied Irritantien, die zu lokalen Schmerzen, Brennen und atypischen Entzündungen bis hin zur Phlebitis führen, und Vesikantien, die mit dem lokalen Gewebstod sowie der Schädigung von Nerven, Sehnen, Muskeln und Gelenken und gegebenenfalls deren Funktionsverlust einhergehen.
Denaturierung von DNS
Als Zytostatika ohne Nekrosepotenzial hob Barth Asparaginase, Bleomycin, Carboplatin, Cisplatin, Cladribin, Cyclophosphamid, Cytarabin, Etoposid, Fludarabin, 5-Fluorouracil, Gemcitabin, Ifosfamid, Irinotecan, Melphalan, Methotrexat und Topotecan hervor. Zytostatika mit Nekrosepotenzial sind Aclarubicin, Amsacrin, Dactinomycin, Daunorubicin, Doxorubicin, Epirubicin, Idarubicin, Mitomycin C, Vinblastin, Vincristin, Vindesin und Vinorelbin.
Faktoren, die das Risiko einer solchen Komplikation erhöhen, seien ungünstige Injektionsorte (Ellenbogen, Handrücken, Unteram), ein zu geringes Applikationstraining, Sorglosigkeit, unzureichende Patienteninformation beziehungsweise Ignoranz von Patientenmeldungen über Missempfindungen während der Infusion sowie eine schlechte Kontrolle des Zugangs. Des Weiteren begünstigen eine hohe Gefäßbrüchigkeit im Alter, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, eine große Zahl bereits durchgeführter Gefäßpunktionen sowie allgemein schlechte Venenverhältnisse zum Beispiel bei Adipositas das Entstehen von Paravasaten.
Antidota von gesichertem Wert
Die lokale nekrotisierende Wirkung der Zytostatika beruhe unter anderem auf der Bildung freier Radikale, die unmittelbar die DNS denaturieren. Beim nachfolgenden Zelluntergang würden DNS-Zytostatikakomplexe freigesetzt und per Endozytose von benachbarten Zellen aufgenommen, führte Barth aus. Je nach Substanz und Menge lasse sich der einmal in Gang gesetzte Circulus vitiosus von Ödem, Überwärmung, Schmerz, beginnenden Ulcerationen und Gewebedefekten sogar nur mit radikaler chirurgischer Entfernung der geschädigten Gewebeteile unterbrechen. „Sofortiges Handeln ist angesagt“, sagte Barth.
Paravasaten effektiv vorbeugen könne nicht nur das medizinische Personal mit einer professionellen Applikation, sondern auch das pharmazeutische, da es das nekrotische Potenzial des Arzneistoffs sachgemäß einschätzen kann. Als Substanzen von gesichertem Wert bei der Behandlung von Paravasaten nannte Barth Dimethylsulfoxid und Hyaluronidase, die jedoch ausreichend hoch dosiert werden müssen. Barth empfahl, die betroffene Region mit 150 I.E./ml sternförmig zu um- und unterspritzen. So werde die Struktur von Binde- und Stützgewebe aufgelockert und der Flüssigkeitsaustausch zwischen dem Gewebe- und dem Gefäßsystem erleichtert. Dies sei allerdings mit starken brennenden Schmerzen verbunden, weshalb betroffene Patienten ein Analgetikum als Prämedikation erhalten sollten.
Klassisches Notfallset
Während Hyaluronidase nur bei Schädigungen durch Vincaalkaloide angezeigt sei, käme zur Primär- und Nachbehandlung bei Paravasaten durch Anthrazykline und verwandte Verbindungen eine mindestens 80-prozentige Dimethylsulfoxid-Lösung (DMSO) zum Einsatz, die antiinflammatorisch, lokalanästhetisch, vasodilatatorisch und kollagenauflösend wirkt. Diese sollte in den ersten drei Tagen im vierstündigem Abstand, in den folgenden zwei Wochen in sechsstündigen Intervallen großzügig auf die Haut aufgetragen werden. Das Anlegen eines Okklusionsverbandes bezeichnete Barth als obsolet, die Haut dürfe lediglich abgedeckt werden. Es empfehle sich, zwischenzeitlich Dexamethason- oder Mometason-haltige Fettcreme auf den betroffenen Bereich aufzutragen.
Als weitere Antidota nannte Barth Natriumthiosulfat, das zur Therapie von Paravasaten durch aggressive Alkylantien dient, beziehungsweise Natriumhydrogencarbonat zur Inaktivierung von Carmustin, wobei dieses nur bei Haut- und Flächenkontamination sinnvoll/indiziert sei. Kälte- oder Wärmebehandlungen als physikalische Therapiemaßnahmen müssten differenziert gesehen werden. So sei etwa Kälte nach Extravasation von Vincaalkoloiden kontrainidziert, da sie das Alkaloid in Position hält und dort konzentriert.
Laut dem Experten sollte das klassische Paravsateset zur
Notfallausrüstung neben Ampullen mit Aqua ad iniectabilia, Einmalkanülen,
Einmalspritzen, sterilen Einmalhandschuhen und sterilen Kompressen
Dimethylsulfoxid, Hyaluronidaseampullen in entsprechender Dosierung,
Natriumchloridlösung, glucocorticoidhaltige Salben oder Cremes,
Natriumthiosulfatlösung sowie Cold-Hotpacks enthalten.
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