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Schwindel nicht einfach hinnehmen

10.11.2003  00:00 Uhr

Geriatrie

Schwindel nicht einfach hinnehmen

von Gudrun Heyn, Berlin

In der Geriatrie gilt Schwindel als eine der häufigsten Ursachen für Frakturen. Doch Schwindel ist kein unabwendbares Schicksal. Gegen den Nihilismus gegenüber diesem Krankheitsbild, der bisher in der Allgemeinmedizin vorherrschte, wandte sich Professor Dr. Ingo Füsgen von den Geriatrischen Kliniken Wuppertal während der 11. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie.

Ähnlich wie die Therapie von Inkontinenz und Demenz beruht die Behandlung alter Menschen nicht auf einem isolierten Konzept, sagte Füsgen. Dabei geht er als Geriater vom multimorbiden Patienten aus, der durch seine Krankheit oder eine Kombination von Erkrankungen in seinem Alltag eingeschränkt ist. Intellektueller Abbau, Immobilität, Inkontinenz und Instabilität sowie Isolation, Schmerz und Schwindel sind dabei die Schwerpunkte der Geriatrie.

Eine Altersgrenze gibt es nicht. So wäre der 91-jährige Deutsche, der Sieger bei der diesjährigen Seniorenweltmeisterschaft in Puerto Rico im Einhundertmeterlauf war, kein Fall für den Geriater selbst wenn er Herz-Rhythmusstörungen bekäme. Dafür gilt aber schon ein 50-Jähriger als geriatrischer Patient, wenn er mehrere Krankheiten gleichzeitig hat, wie etwa Diabetes, chronische Emphysembronchitis, koronare Herzkrankheit, Durchblutungsstörungen und Divertikulitis.

Häufigste Begleiterkrankung sind bei alten Menschen Herz-Kreislauf-Krankheiten. Gesellschaftlich bedeutend sind jedoch Demenzerkrankungen, Schlaganfälle und besonders bei den Hochbetagten Stürze mit Frakturen. Der Schwindel im Alter wird dabei häufig unterschätzt. Als altersabhängiges Symptom ist er bei bis zu 68 Prozent der Älteren zu beobachten. Dabei scheinen Frauen häufiger betroffen zu sein als Männer. Zu den Komplikationen des Schwindels gehören Ängstlichkeit, kurze Bewusstlosigkeit (Synkope) verbunden mit Stürzen, der Rückgang der sozialer Aktivitäten und eine Minderung der Lebensqualität.

Der im Deutschen alleinige Gebrauch des Ausdrucks Schwindel für verschiedene Symptome sei missverständlich, stellte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie fest. Er bevorzugt die Einteilung der angelsächsischen Länder, die zwischen dem eigentlichen Schwindel (Vertigo) und Verwirrtheit (Dizziness) unterscheiden. Schwierigkeiten bei der Orientierung im Raum und dadurch Unsicherheiten bei alltäglichen Bewegungsabläufen zählen in der Hausarzt-Praxis zu den häufigsten Beschwerden älterer Patienten. Stürze und Knochenbrüche führen dabei oft in die Einbahnstraße zum Pflegeheim.

Ursachen abklären

Schwindel hat verschiedene Ursachen. Als Risikofaktoren gelten Gangstörungen, die Einnahme mehrerer Medikamente, depressive Symptome, ein vorangegangener Herzinfarkt, die posturale Hypotonie, Ernährungsfaktoren sowie Hör- und Sehstörungen. Nur bei jedem zweiten Patienten lassen sich die zu Grunde liegenden Krankheiten abklären. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Innenohr-Erkrankungen oder cerebrovaskuläres Störungen sind definierbare Schwindelursachen, deren Diagnose die Überweisung an den entsprechenden Facharzt ermöglicht. Bei etwa 45 bis 50 Prozent der Erkrankten ist Schwindel jedoch kein Symptom eines bestimmten Krankheitsbildes, sondern ein geriatrisches Syndrom mit multifaktorieller Genese. „Der Verlegenheitsausdruck Altersschwindel sagt aus, dass auch die Ärzte die Ursachen für die Symptome nicht kennen“, sagte Füsgen. Dabei hat Schwindel auch eine psychische Komponente.

Auch wenn die Ursachen nicht definitiv abgeklärt werden können, gibt es Behandlungsmöglichkeiten. So wurden jetzt an 16 geriatrischen Kliniken und in 5 niedergelassenen Praxen Patienten mit Altersschwindel symptomatisch mit Dimenhydrinat behandelt. Gleichzeitig erhielten die Senioren ein aktives körperliches und geistiges Alltagstraining. Außerdem waren die 164 Patienten aufgefordert, sich körperlich zu betätigen, sobald der Schwindel nachließ.

Während der zweiwöchigen Therapie beobachteten die Ärzte eine deutlich verbesserte Gangsicherheit. Zudem waren die Patienten weniger depressiv als zuvor. Obwohl auch die Placebo-Gruppe fleißig trainierte, stellten sich derartige Erfolge dort nicht ein. „Das Paket Therapie und Training ist das entscheidende Konzept“, sagte Füsgen. Erst wenn sich durch das Medikament die Symptome bessern, werden die Patienten körperlich aktiv.

Ergänzt wurde die randomisierte Doppelblindstudie durch eine Anwendungsbeobachtung, die über mehrere Monate zuhause stattfand. Auch dort verbesserte das Trainings- und Therapieschema die Aktivitäten des täglichen Lebens. Für eine randomisierte doppelblinde Nachfolgestudie über drei bis sechs Monate werden derzeit bundesweit Patienten gesucht.

 

Sorge um die Zukunft Nach der neuen Approbationsordnung für Ärzte werden erstmals die Alten in die Studentenausbildung mit einbezogen. „Zur Umsetzung fehlen jedoch die Lehrkapazitäten an den Universitäten, und überdies ist die dazu notwendige Anzahl an Klinikbetten in der Praxis nicht vorhanden“, sagte Professor Dr. Dr. Gerald Kolb vom St. Bonifatius-Hospital in Lingen an der Ems.
Sorge bereitet den Geriatern außerdem die neue Musterweiterbildungsordnung für Ärzte. Darin kommt die Geriatrie nicht mehr als Schwerpunkt vor. Damit fällt die Zusatzbezeichnung Geriater weg, aber auch Spezialisierung in Krankenhäusern ist nicht mehr gegeben. Nach wie vor wird es jedoch geriatrische Kliniken geben. Top

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