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Ein Leben ohne Brot und Bier

10.02.2003  00:00 Uhr
Zöliakie

Ein Leben ohne Brot und Bier

von Helga Anton-Beitz, Tübingen

Der Verzehr von Weizen, Roggen, Gerste und Hafer führt bei 0,5 bis 1 Prozent der Bevölkerung zur Entzündung des Dünndarms. Auslöser der als Zöliakie bekannten Erkrankung ist das Getreideprotein Gluten. Nur eine lebenslange streng glutenfreie Diät verschafft den Erkrankten Linderung. Neue Forschungsergebnisse rücken eine gezielte Therapie nun erstmals in greifbare Nähe.

Die Zöliakie tritt im Säuglings- beziehungsweise Kleinkindalter auf, oft schon drei bis sechs Monate, nachdem mit dem Zufüttern getreidehaltiger Produkte wie Grießbrei begonnen wurde. Sie kann sich aber auch erst im Erwachsenenalter manifestieren und wird dann als einheimische Sprue bezeichnet.

Beiden Krankheitsbildern liegt dieselbe Pathogenese zu Grunde, für die sowohl eine genetische Veranlagung als auch bestimmte äußere Faktoren vorhanden sein müssen. Untersuchungen an eineiigen Zwillingen haben gezeigt, dass bei 70 Prozent beide von der Zöliakie betroffen sind. Die Kinder eines Zöliakiepatienten erkranken mit einer Wahrscheinlichkeit von 8 bis 18 Prozent.

Bei einer Manifestation im Kindesalter scheint der Zeitpunkt ausschlaggebend, an dem die Kinder erstmals Getreideprodukte aufnehmen. Je früher dies geschieht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für das Kind, an Zöliakie zu erkranken.

Rückbildung der Darmzotten

Bei Gesunden ist das Dünndarmepithel in circa 1 Millimeter hohe Falten gelegt, die so genannten Zotten oder Villi. Sie dienen der Oberflächenvergrößerung, damit der Dünndarm ankommende Nahrungsbestandteile resorbieren kann. Die bei Zöliakiepatienten durch Gluten ausgelöste Immunreaktion führt zur Rückbildung der Zotten, verbunden mit einem Funktionsverlust des Dünndarms. Die Folgen sind Durchfälle, Blähungen und Übelkeit, mit der Zeit auch Mangelernährungserscheinungen und Wachstumsstörungen. Ohne glutenfreie Diät erhöht sich im Lauf der Zeit das Risiko der Patienten, an Osteoporose oder Darmkrebs zu erkranken. Daneben leiden die Betroffenen auch überdurchschnittlich häufig an Autoimmunerkrankungen wie Typ-I-Diabetes.

Die Zahl der Symptome variiert stark: Patienten können symptomfrei sein oder auch das klinische Vollbild zeigen. Die richtige Diagnosestellung ist somit schwierig, und erfolgt für viele Betroffene erst nach Jahren. Zur sicheren Diagnostik gehört die Entnahme einer Dünndarmgewebeprobe, an der die Zottenstruktur untersucht wird. Die Biopsie muss unbedingt vor Beginn einer glutenfreien Diät erfolgen, danach ist keine sichere Aussage mehr möglich. Alternativ kann das Blut auf Antikörper gegen Gluten untersucht werden. Der Test kann aber falsch negative Ergebnisse liefern und ist daher nur bedingt einsetzbar.

Zöliakie ist nicht heilbar. Die Betroffenen können aber symptomfrei leben, wenn sie eine streng glutenfreie Diät einhalten, unter der sich das Dünndarmepithel strukturell und funktionell vollständig erholen kann. Bei dieser Diät werden sämtliche glutenhaltigen Getreidesorten durch glutenfreie wie Reis, Mais oder Hirse ersetzt. Dies ist nur unter großem persönlichen und auch finanziellen Aufwand möglich, denn glutenhaltige Getreidesorten sind in vielen Grundnahrungsmitteln enthalten, und Gluten selbst dient in der Lebensmittelindustrie als Hilfsstoff, der als solcher oft nicht deklariert ist. Zudem leben die Patienten meist mit Gesunden im selben Haushalt und schon kleinste Rückstände von zum Beispiel Weizenmehl an Küchengeräten können einen Zöliakie-Schub auslösen.

Tückisch ist, dass nicht jeder Diätfehler Symptome bei den Patienten auslöst, sich aber immer schädigend auf das Dünndarmepithel auswirkt. Sie können dadurch zu der Annahme verleitet werden, ihre Krankheit hätte sich gebessert oder sei gar ausgeheilt.

Gluten macht Brot backfähig

Gluten ist der Oberbegriff für das Gemisch verschiedener Speicherproteine des Korns von Weizen, Roggen, Gerste und Hafer. Es macht etwa 5 Prozent der Trockenmasse aus und ist für die Backfähigkeit des Brots verantwortlich. Es wird daher auch als Kleberprotein bezeichnet. Da dem Weizen in der westlichen Welt eine wichtige Bedeutung bei der Ernährung zukommt, sind dessen Speicherproteine am besten untersucht. Es handelt sich hier vor allem um die so genannten Gliadine, die einen hohen Gehalt an den Aminosäuren Prolin (P, bis zu 20 Prozent aller Aminosäuren) und Glutamin (Q, bis zu 40 Prozent aller Aminosäuren) aufweisen. Zu ihnen gehört das α2-Gliadin, das sich durch Wiederholungen der Aminosäuresequenz PQPQLPY auszeichnet. Diese Sequenz bildet eine besondere räumliche Struktur aus, eine linksgängige Spirale, die auch als Polyprolin-II-Helix bezeichnet wird.

Untersuchungen haben gezeigt, dass sich α2-Gliadin mit Hilfe dieser Helix besonders fest an die immunkompetenten Zellen des Dünndarms anheftet und so eine besonders starke Immunantwort hervorrufen kann. Die Speicherproteine von Reis, Mais und Hirse sind zwar ebenfalls prolinreich, bilden aber viel schwächere Helixstrukturen aus. Dies scheint sie für Zöliakiepatienten verträglich zu machen.

Mit der Nahrung aufgenommenes Gluten wird durch die Enzyme des Magens, der Bauchspeicheldrüse und des Dünndarmepithels verdaut. Wissenschaftler der Stanford-Universität in den USA und der Universität Oslo haben nun erstmals ein 33 Aminosäuren langes Fragment identifiziert, das beim Verdau des α2-Gliadins entsteht und nicht mehr weiter abgebaut wird. Wie die Forscher im renommierten Wissenschaftsmagazin Science berichten, enthält dieses Fragment alle PQPQLPY-Sequenzen des α2-Gliadins und stimuliert die immunkompetenten Zellen sehr stark. Es steht daher im Verdacht die Pathogenese in vivo auszulösen.

Glutenfragmente stimulieren T-Zellen

Die Epithelzellen des Dünndarms bilden keine völlig undurchlässige Barriere. Wasser und in beschränktem Maße darin gelöste Stoffe können zwischen den Epithelzellen hindurch in den subepithelialen Bereich vordringen. So gelangen auch Spuren der etwa 13 Gramm Gluten, die Menschen in den westlichen Ländern täglich aufnehmen, in Form seiner durch den gastrointestinalen Verdau entstandenen Fragmente in das Innere der Dünndarmzotte. Dort treffen sie auf die Zellen des lokalen Immunsystems (siehe Grafik). Phagozytierende Zellen nehmen Gluten auf und präsentieren es an ihrer Oberfläche als Antigen. Dieses bindet an T-Lymphozyten und regt sie zur Freisetzung einer Vielzahl von Zytokinen an, durch die weitere Zelltypen des Immunsystems stimuliert werden. B-Lymphozyten produzieren Antikörper gegen Gluten, Makrophagen und Granulozyten setzen Entzündungsmediatoren frei, und Fibroblasten sezernieren gewebeabbauende Proteasen. All dies führt zur Entzündung des Dünndarmepithels und zur Rückbildung der Zottenstruktur.

Um Antigene präsentieren zu können, besitzen phagozytierende Zellen spezifische Oberflächenstrukturen, die sogenannten HLA-Proteine (human leukocyte antigen). Nicht jedes HLA-Protein kann jedes Antigen präsentieren, die beiden müssen vielmehr strukturell zueinander passen. So ist auch ein ganz bestimmter HLA-Typ notwendig, um Gluten zu präsentieren. Die Zellen von 95 Prozent aller Zöliakiepatienten tragen Oberflächenstrukturen vom Typ HLA-DQ2, der die Polyprolin-II-Helix Strukturen des Glutens besonders gut bindet. Die restlichen 5 Prozent der Patienten weisen meist den ähnlichen HLA-DQ8-Typ auf. Da der HLA-Typ genetisch vorgegeben ist, liegt hier einer der Gründe für die erbliche Komponente der Zöliakie. Den HLA-DQ2-Typ tragen jedoch nicht nur Zöliakiepatienten, er kommt bei rund einem Drittel der Bevölkerung vor. Warum das Immunsystem der meisten Gluten toleriert, konnte bislang nicht geklärt werden.

Im subepithelialen Bereich trifft Gluten neben den immunkompetenten Zellen auf die Gewebe-Transglutaminase (tTGase, tissue transglutaminase). Dieses Enzym vernetzt Proteine über deren Glutamin- und Lysinseitenketten, oder desamidiert Glutamin zum Glutamat. Gluten ist kein physiologisches Substrat der tTGase, hat aber auf Grund der Polyprolin-II-Helices eine hohe Affinität zu dem Enzym. Die Vernetzung des Glutens zu größeren Aggregaten erleichtert dessen Aufnahme durch die phagozytierenden Zellen, die Desamidierung verstärkt die Bindung an HLA-DQ2. Beides erhöht die stimulierende Wirkung des Glutens auf die T-Lymphozyten.

Im Blut von Zöliakiepatienten wurden auch Antikörper gegen die tTGase gefunden. Die tTGase wird im Dünndarmepithel zur Aktivierung eines Wachstumsfaktors benötigt, der für die Differenzierung des Epithels wichtig ist. Die Blockade der tTGase durch den Antikörper trägt damit zusätzlich zum Funktionsverlust des Dünndarmepithels bei. Ungeklärt ist bislang, warum diese Antikörper gegen ein körpereigenes Enzym entstehen. Möglicherweise wird durch die besonders feste Bindung zwischen Gluten und der tTGase nicht nur das Gluten, sondern auch das Enzym von den phagozytierenden Zellen aufgenommen und präsentiert.

Ein Ausschalten des stark immunogenen α2-Gliadin-Bruchstücks würde ursächlich in den Ablauf der beschriebenen Pathogenese eingreifen. In ersten Versuchen konnte das 33 Aminosäuren lange Fragment in vitro und in vivo im Rattenmodell durch ein bakterielles, Eiweiß abbauendes Enzym, eine Polyprolin-Endopeptidase (PEP) verdaut werden. Die entstehenden Bruchstücke sind nicht mehr in der Lage, T-Lymphozyten zu stimulieren. Die enzymatische Aktivität der PEP ist an eine prolinreiche Erkennungssequenz im Substrat gebunden. Da diese nicht nur im 33 Aminosäuren langen Fragment auftritt, sondern überall sonst im Gluten vorkommt, könnten weitere immunreaktive Peptide inaktiviert werden. Eine Therapie, bei der die PEP zusammen mit einer glutenhaltigen Mahlzeit gegeben wird, ähnlich der Gabe von Lactase an Personen mit Lactoseintoleranz, ist daher ein viel versprechender Ansatz. Den Zöliakiepatienten ist zu wünschen, dass dieses Ziel in den nächsten Jahren intensiv weiter verfolgt wird und ihnen in naher Zukunft eine medikamentöse Therapie zur Verfügung steht.. Top

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