Exportschlager Masern |
26.05.2003 00:00 Uhr |
In Deutschland kommt es immer wieder zu Masern-Ausbrüchen, weil die für die Ausrottung des Virus nötigen Durchimpfungsraten nicht erreicht werden. Deutsche Reisende schleppen die Infektionskrankheit in masernfreie Regionen ein. Im Gegensatz dazu hat Finnland als erstes europäisches Land die Masern ausgerottet. „Was machen die Finnen anders?“, war eine der Fragen, die Experten während eines Symposiums der Stiftung Präventive Pädiatrie Mitte Mai in Mainz diskutierten.
Auch in Finnland traten Masern, Mumps und Röteln vor 1982 relativ häufig auf, weil die Durchimpfungsraten zu niedrig waren. Durchschnittlich 15 000 Masernerkrankungen pro Jahr wurden zum Beispiel in den 70er-Jahren gemeldet. Der Staat reagierte 1982 mit einem nationalen Impfprogramm, in dessen Folge die Durchimpfungsraten auf über 95 Prozent anstiegen – und das bei einem insgesamt sehr komplexen Impfschema. Seit 1996 wurden nur noch vier Masernerkrankungen gemeldet, alle waren eingeschleppt. Auch Mumps und Röteln gelten in Finnland als ausgerottet.
Vor allem die Betreuung der Kinder und Eltern ist in Finnland besser als in Deutschland. Etwa 4000 beim öffentlichen Gesundheitswesen angestellte Krankenschwestern kümmern sich um jeweils eine fixe Gruppe von Kindern – von der Geburt bis ins Erwachsenenalter, erklärte Professor Dr. Heikki Peltola vom Krankenhaus für Kinder und Jugendliche in Helsinki. Sowohl Kinder als auch Mütter kennen somit die für sie verantwortliche Krankenschwester persönlich, die auch Hausbesuche macht. Die Schwestern stehen unter der Aufsicht der lokalen Ärzte. Aber sie impfen die Kinder, informieren die Eltern und erinnern sie an die Impfungen.
Impfstoffe werden knapp Gleich mehrere Referenten wiesen auf die Verknappung der Impfstoffe weltweit hin. So verfügte Unicef im Jahr 1994 noch über 500 bis 600 Millionen Impfdosen gegen Hämophilus influenzae b, sagte Dr. Daniel Tarantola vom Department of Vaccines and Biologicals der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf. 2003 verfüge die Organisation nur noch über 100 bis 200 Millionen Dosen. Dies sei kein Einzelfall, auch für die anderen Impfstoffe sehe es nicht viel besser aus. Eine der Ursachen für den Impfstoffmangel sah Tarantola in den Fusionen im Pharmamarkt. Dadurch seien viele Produkte – auch Impfstoffe – von den Firmen abgestoßen oder die Herstellung eingestellt worden.
Außerdem haben die finnischen Wissenschaftler schon früh für Daten gesorgt, die Impfgegnern den Wind aus den Segeln nehmen. So publizierten Peltola und sein Kollege, Professor Dr. Olli P. Heinonen, 1986 eine doppelblinde, placebokontrollierte Studie zu tatsächlichen Impfnebenwirkungen. In einem einfachen, aber genialen Studiendesign impften sie von 581 Zwillingspaaren eines der Kinder, das andere erhielt Placebo. Drei Wochen später gingen die Ärzte umgekehrt vor, um die Kinder keinem unnötigen Risiko auszusetzen. Damit hatten sie eine ungeimpfte Kontrollgruppe, die in den meisten Studien zu Impfnebenwirkungen fehlt.
Die Ergebnisse waren beeindruckend. Tatsächlich traten Nebenwirkungen wie Fieber und Ausschlag bei 0,5 bis 4 Prozent der Geimpften auf – und nicht bei 70 Prozent wie oft auf Grund anderer, nicht placebokontrollierter Studien angenommen. Zudem beobachteten die Ärzte respiratorische Symptome, Übelkeit und Erbrechen häufiger in der Placebogruppe als in den tatsächlich geimpften Kindern.
Masernausbruch in Deutschland
Nur mit hohen Durchimpfungsraten von 92 bis 95 Prozent wie in Finnland lassen sich die Masern tatsächlich ausrotten, erklärte Professor Dr. Rüdiger von Kries vom Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität, München. Denn im Gegensatz zu anderen Erregern sind Masern hoch ansteckend. In einigen Landkreisen in Bayern liegen die Durchimpfungsraten für Masern allerdings bei unter 80 Prozent. Eine dieser Regionen ist der Landkreis Coburg, der im vergangenen Jahr mit einem Masern-Ausbruch Schlagzeilen machte. In der Region lebt eine große anthroposophische Gemeinde, die Impfungen generell ablehnt. Eine Waldorf-Schule war Ausgangspunkt des Ausbruchs, berichtete von Kries. Etwa 1000 Masernerkrankungen traten auf, 43 Betroffene mussten stationär behandelt werden, davon etwa die Hälfte Kleinkinder. Anlass waren meist Komplikationen wie Pneumonie, Bronchitis, Otitis media oder Krämpfe. Todesfälle und Enzephalitiden wurden glücklicherweise nicht beobachtet. Die gefürchtete Masern-Enzephalitis tritt bei etwa einem von 1000 Patienten auf. Sie verursacht Bewusstseinsstörungen, Krämpfe bis hin zu epileptischen Anfällen sowie Lähmungen. Bei jedem dritten Patienten bleiben Schäden wie Lähmungen oder geistige Behinderungen zurück. Etwa 25 Prozent der Patienten sterben an der Komplikation.
Ursache für die niedrigen Durchimpfungsraten seien nach Angaben von Kries Medienberichte, die immer wieder Impfungen mit Krankheit wie Autismus und entzündlichen Darmerkrankungen in Zusammenhang bringen. Auch mystische Vorstellungen, nach denen Krankheiten essenzielle Komponenten der menschlichen Existenz sind, tragen zur Zurückhaltung der Eltern bei den Impfungen bei. Außerdem hätten viele Menschen überzogene Vorstellungen zu Impfreaktionen und Impfrisiken.
Als unbelehrbar zeigten sich die Einwohner von Coburg jedoch nicht. So stiegen die Impfstoffverkäufe nach Beginn des Ausbruches um etwa 50 Prozent an, und einige Arztpraxen wurden schier von Impfwilligen gestürmt, berichtete von Kries. Oft fehle schlichtweg fundierte Information. So gebe etwa die Hälfte der Eltern an, nicht ausreichend über Impfungen informiert zu sein. Nur 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung lehnen Impfen prinzipiell ab.
Die Angst vor Impfnebenwirkungen hat dabei eine historische Basis, erklärte Professor Dr. Johannes Löwer, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts in Langen. Die ersten Impfungen wie die Variolation hatten oft schwere Impfzwischenfälle bis hin zum Tod zur Folge. Die heutigen Impfstoffe sind mit den veralteten Vakzinen, zu denen Löwer auch die Pockenimpfung zählte, nicht zu vergleichen. Allerdings könne man Nebenwirkungen einer Impfung nie hundertprozentig ausschließen. Dabei würden Koinzidenz und Kausalität jedoch oft verwechselt.
Nach heutigem Wissen gibt es seit 1998 keinen von der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut in Berlin empfohlenen Impfstoff mehr, von dem nachgewiesen wurde, dass er Impfstoff-typische, bleibende Schäden verursacht. Das Paul-Ehrlich-Institut geht gemeldeten Impfkomplikationen jedoch grundsätzlich nach. Derzeit würden zum Beispiel fünf Todesfälle von Kindern im zweiten Lebensjahr untersucht, die innerhalb von 24 Stunden nach Gabe des hexavalenten Impfstoffs auftraten. Drei dieser Zwischenfälle ereigneten sich in Deutschland, zwei in anderen EU-Ländern. Aufgefallen war, dass bei allen Kindern Hirnödeme aufgetreten waren. Ob ein kausaler Zusammenhang mit dem Impfstoff besteht, der bereits in 3,7 Millionen Dosen verabreicht wurde, ist noch nicht klar, wird aber derzeit untersucht.
Deutschland und andere europäische Länder sowie Japan machen sich mit ihrer scheinbar nachlässigen Haltung, was die Bekämpfung der Masern angeht, weltweit nicht beliebt. Europa und Japan gelten inzwischen als Hauptexporteure von Masernviren auf den amerikanischen Kontinent, berichtete Dr. Ciro de Quadros vom Sabin Vaccine Institute in Washington D.C. „Sie müssen die Masern kontrollieren und eradizieren“, forderte er die Deutschen auf. Dies sei die einzige Möglichkeit, die Masern weltweit auszurotten. Auf dem amerikanischen Kontinent ist dies schon fast gelungen. Dort gingen auf Grund von sehr gut organisierten Impfprogrammen die Erkrankungsraten von fast 250 000 im Jahr 1990 auf unter 500 Erkrankungen im Jahr 2001 zurück.
Impfstoffe für die Ärmsten Während in Europa über Impfnebenwirkungen diskutiert wird, sterben weltweit noch immer drei Millionen Menschen an impfpräventablen Erkrankungen pro Jahr, zwei Drittel davon sind Kinder. Fast eine Million der Todesopfer geht auf Masern zurück. „In anderen Ländern stellt man sich nicht die Frage, ob eine Impfung weh tut“, sagte Dr. Joris Vandeputte vom Vaccine Fund, Lyon. Dort seien die Menschen froh, sich vor einem frühzeitigen Tod schützen zu können. Weltweit sind noch immer etwa 36 Millionen Kinder nicht gegen Polio, Tetanus und Diphtherie geimpft. Mit 8200 Toten pro Tag entspricht die Zahl der Opfer impfpräventabler Infektionskrankheiten den täglichen Aids-Toten weltweit. Dabei kostet die komplette Impfung eines Kindes etwa 30 Euro. Da zehn Kinder geimpft werden müssen, um einen Todesfall zu verhindern, ließe sich für 300 Euro ein Menschenleben retten.
Weil die Durchimpfungsraten weltweit massiv zurückgingen, nachdem seit den 80er-Jahren das Interesse an Infektionskrankheiten und Impfungen nachließ, wurden 1999 die „Global Alliance for Vaccines and Immunization“ (GAVI) gegründet. Die Organisation hat sich auf die Fahnen geschrieben, bis 2005 die Durchimpfungsraten für die wichtigsten Infektionskrankheiten in Entwicklungsländern auf 80 Prozent zu erhöhen – bei Gründung der Organisation lagen sie bei etwa 50 Prozent. An GAVI sind die Weltgesundheitsorganisation (WHO), Unicef, die Weltbank, die Regierungen von Industrie- und Entwicklungsländern, Forschungsinstitute, die Impfstoffindustrie, Hilfsorganisationen und Stiftungen beteiligt. Finanziert wird die Arbeit mit Hilfe des Vaccine Funds, in den viele Regierungen auch ärmerer Länder einzahlen. Den größten Teil der derzeit jährlich 250 Millionen Euro, die der Organisation zur Verfügung stehen, finanziert die „Bill and Melinda Gates“-Stiftung. Um die gesteckten Ziele zu erreichen, bräuchte GAVI allerdings 400 Millionen Euro jährlich. Mit Deutschland, das sich bislang finanziell nicht beteiligt, liefen derzeit Verhandlungen, sagte Vandeputte.
GAVI ist nicht als Konkurrenz zu bestehenden Strukturen gedacht. Die Aktivitäten sollen die Aktionen von WHO und Unicef ergänzen und bestehendes Fachwissen nutzen. Besonders wichtig ist den Organisatoren, dass die betroffenen Länder die Maßnahmen und auch die Impfstoffproduktion selbst in die Hand nehmen. Daher werden Projekte grundsätzlich nur über fünf Jahre gefördert. Bislang unterstützte GAVI Maßnahmen in 65 Ländern mit 915 Millionen Euro. Dass das Konzept aufgeht, zeigen die steigenden Impfraten in besonders armen Ländern. Zum Beispiel wurden bislang mehr als 10 Millionen Kinder gegen Hepatitis B geimpft. Bis 2005 sollen alle Kinder weltweit neben den Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Polio auch Zugang zu Impfstoffen gegen Hämophilus influenzae b und Hepatitis haben. Außerdem sollen bis dahin auch Impfstoffe gegen Pneumokokken, Meningitis-Erreger und Rotaviren zur Verfügung stehen. „Damit könnte man 2,5 Millionen weiteren Menschen jährlich das Leben retten“, so Vandeputte. Für die Unterstützung der Programme gebe es nicht nur einen moralischen Imperativ, auch für die nachhaltige Entwicklung sei die Investition unverzichtbar. Vandeputte: „Wenn wir nicht impfen, können wir alle Gelder, die in die Entwicklungshilfe stecken, vergessen.“
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