Medizin
Suchterkrankungen haben eine lange Geschichte, auch wenn diese den
Betroffenen und ihrer Familie oft nicht bewußt ist. Dies gilt auch für die
Anorexie, die Magersucht, und die Bulimie, die durch den Wechsel von
Heißhungerattacken und Brechanfällen gekennzeichnet ist. Während früher
die Familientherapie ganz im Vordergrund stand, wird heute der
Autonomiestärkung zumindest bei älteren Mädchen mehr Raum gegeben.
Verständnis für die Phasen der Störungen und ihre auslösenden Faktoren weckte die
Kinder- und Jugendpsychologin Dr. Dagmar Hoehne aus Friedrichshafen mit ihrem
Vortrag beim PTA-Forum am 18. Oktober in Düsseldorf. Sie beschrieb den
Konflikt der Mädchen, die - eingebunden in ein enges Familiensystem - ihrem Drang
zur Selbständigkeit folgen wollen. Typischerweise beginnt eine Magersucht meist zu
Beginn der Pubertät und kann sich später zur Bulimie ausweiten. Neun von zehn
Erkrankten sind Mädchen.
Von der Diät zur Magersucht
Viele junge Mädchen machen Schlankheitskuren, doch bei manchen "kommt
irgendwann der Knick". Sie unterschreiten ihr Wunschgewicht immer weiter, haben
panische Angst vor einer Gewichtszunahme, wiegen sich mehrmals täglich.
Selbstwertgefühl und Laune werden von der Waage bestimmt. Die
Gewichtskontrolle wird zwanghaft und dient der inneren Aufwertung. Je mehr die
Familie zum Essen drängt, um so stärker verweigert sich das Mädchen. Die Familie
fühlt sich hilflos, da sich die Tochter/Schwester den bekannten Familienstrukturen
verweigert; viele Mütter bekommen Schuldgefühle.
Wird der Zwiespalt zu groß - die Familie soll nicht leiden, aber das Mädchen
möchte seine Autonomie behalten -, kann sich die Magersucht in Bulimie ausweiten.
Heißhungerattacken wechseln mit Brechanfällen oder induzierten Durchfällen. Wer
nicht erbrechen kann oder will, nimmt rasant zu.
Die Ursachen der Anorexie sieht man heute viel differenzierter als noch vor einigen
Jahren, erklärte Hoehne. Als prädisponierende Parameter werden familiäre
Strukturen, soziokulturelle und individuelle Faktoren sowie biologische Auslöser
angesehen. Die "typische" Familie beschrieb die Psychologin als äußerlich intakt und
heil, sehr geschlossen und vernunftbetont. Emotionen bleiben außen vor, Konflikte
werden totgeschwiegen. Typisch sind nach ihren Worten Grenzüberschreitungen
(Mütter lesen beispielsweise das Tagebuch ihrer Tochter); typisch seien auch
Verbünde innerhalb der Familie, die den Zusammenhalt von Geschwistern belasten
(Tochter verbündet sich beispielsweise mit einem Elternteil gegen den anderen oder
mit der Großmutter gegen die Eltern).
Meistens sind die magersüchtigen Mädchen hochsensibel für Anforderungen von
außen, achten aber kaum auf eigene Gefühle. Ihre Sucht nach Lob und Anerkennung
ist groß, ihr Selbstwertgefühl labil und niedrig. Typisch sind Omnipotenzgefühle und
eine bedeutende Rolle im Familienverband. Bei sehr schweren Störungen bis hin zum
Borderline-Syndrom findet man in der Anamnese oft sexuellen Mißbrauch, erklärte
Hoehne, bei leichteren Fällen eher einen emotionalen Mißbrauch. Sie warnte davor,
bei einer Bulimie automatisch sexuellen Mißbrauch zu unterstellen.
Spezifische Symptome einer Eßstörung sind die extreme Bedeutung von Gewicht
und Figur, interaktionelle Probleme wie Rückzug von Freundinnen und Freunden,
vermehrte Leistungsorientierung, die gut ins familiäre Umfeld paßt. Die Krankheit
wird begleitet von vielfältigen Ängsten und Depressionen, von Schuld- und
Schamgefühlen, Beziehungsstörungen und Körperschemastörungen. Die Mädchen
nehmen ihren Körper nicht mehr wahr und an. "Ohne Behandlung der
Körperschemastörung kann eine Anorexie oder Bulimie nicht behandelt werden",
vertrat die Psychologin.
Familien- und Einzeltherapie
Zunächst richtet sich die Therapie auf die Krankheitseinsicht, denn viele Mädchen
empfinden sich nicht als krank. Fehlt diese Einsicht völlig, kann die Therapie auch
bei den Eltern beginnen. Bei jungen Patientinnen unter 15 oder 16 Jahren setzt
Hoehne eher auf eine Familientherapie, bei älteren eher auf die Autonomiestärkung.
Meistens wird das Mädchen über mehrere Jahre begleitet. Als Marke für die
Einweisung ins Krankenhaus nannte Hoehne ein Körpergewicht von 34 bis 35 kg;
bei Minderjährigen liege dies in der Verantwortung der Eltern.
Schwierig ist es, eine Kundin in der Apotheke auf ihr Problem anzusprechen.
Hoehne empfahl in der Diskussion, vorsichtig vorzugehen und die Kundin ganz
persönlich anzusprechen. Vielleicht helfe der Hinweis auf (Sucht-)Beratungsstellen
oder Selbsthilfegruppen. Das koste viel Mut, räumte die Psychologin ein, aber: Je
früher die Patientin zur Therapie kommt, um so besser sind die Heilungschancen.
PZ-Artikel von Brigitte M. Gensthaler, Düsseldorf

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