Chorea Huntington und das Recht auf Nichtwissen |
12.03.2001 00:00 Uhr |
SELBSTHILFEGRUPPEN
Mehr noch als andere Erkrankungen prägt sie das Leben nicht nur der Betroffenen, sondern auch der Angehörigen: die Huntington-Krankheit. Die Entstehungsmechanismen des "extrapyramidalen Syndroms mit Hyperkinesen und allgemeiner Hypotonie der Muskulatur", das mit einem Abbau von Nervenzellen in bestimmten Hirnarealen einhergeht, sind nach wie vor unbekannt. Das klinische Bild ist bei 40 Prozent der Betroffenen von plötzlichen, unwillkürlichen Bewegungen geprägt. Sie verleihen dem Gang einen tänzelnden Charakter, daher der Name Chorea Huntington, früher auch erblicher Veitstanz.
Weitere 40 Prozent der Huntington-Patienten - in Deutschland circa 8000 - entwickeln zunächst psychische Auffälligkeiten und Persönlichkeitsveränderungen wie erhöhte Reizbarkeit, Störungen der Impulskontrolle, Angst, Gleichgültigkeit, sozialer Rückzug und im weiteren Krankheitsverlauf Sprach- und Schluckstörungen, Depressionen, Wahnvorstellungen sowie Demenz. 20 Prozent zeigen zu Beginn der Krankheit sowohl neurologische als auch psychiatrische Symptome.
Molekulargenetische Diagnostik
"Das durch eine Mutation auf dem kurzen Arm des Chromosoms 4 verursachte Leiden ist von stetigem, manchmal schubweisem Fortschreiten der körperlichen und psychischen Veränderungen gekennzeichnet", so Christiane Lohkamp, Vorsitzende der Deutschen Huntington-Hilfe e. V., Duisburg. In der Regel bricht die Erkrankung zwischen dem 35. und 50. Lebensjahr aus. Lohkamp verweist auf die erheblichen seelischen Belastungen, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für deren Kinder und Kindeskinder, die mit der Angst leben müssen, selbst zu erkranken. Die Vererbung ist autosomal-dominant, Männer und Frauen sind daher gleichermaßen betroffen. Das Risiko für Kinder von Huntington-Erkrankten liegt bei 50 Prozent.
Mit den Errungenschaften der modernen Medizin hat sich für die Nachkommen zu den zahlreichen Fragen, die mit ihrer Zukunfts- und Lebensplanung einhergehen, eine weitere hinzugesellt. Sollen sie die heutigen Möglichkeiten der prädiktiven molekulargenetischen Diagnostik in Anspruch nehmen, um festzustellen, ob sie Träger der Huntington-Mutation sind oder nicht? Lohkamp spricht von einer sehr persönlichen Entscheidung, die nicht ohne reifliche Überlegung getroffen werden kann.
"Unabhängig davon, wie der Test ausgeht, er verändert das Leben. Das Ergebnis ist eine nicht zurücknehmbare Information, es gibt den Blick auf die Zukunft frei", so die Stuttgarterin, deren Ehemann an Huntington erkrankt war und bei deren Tochter sich die ersten Symptome der Krankheit im Alter von 21 Jahren zeigten. Sie misst dem "Recht auf Nichtwissen" große Bedeutung zu.
"Im Zeitalter der Informationsfülle gilt Wissen als gleichbedeutend mit Stärke. Doch heißt das nicht gleichzeitig, dass Nichtwissenwollen mit Schwäche gleichzusetzen ist", ist ihre Erfahrung. "Im Gegenteil: Man darf nicht übersehen, dass Menschen gute Gründe haben, nicht wissen zu wollen, da Nichtwissen für sie Schutz bedeuten kann." Keinesfalls dürfe ein Rechtfertigungszwang für Betroffene durch Außenstehende entstehen. Nicht nur die Freiwilligkeit zur Untersuchung, auch der Schutz der Daten vor dem Zugriff von Versicherungen, Arbeitgebern et cetera müsse gewährleistet bleiben. Lohkamp: "Dringend erforderlich ist eine gesetzliche Regelung, die es als sittenwidrig erklärt, zum Beispiel bei einem Vorstellungsgespräch nach genetischen Risiken zu fragen."
Nur die Symptome behandelbar
Die prädiktive molekulargenetische Diagnostik beantwortet zwar die Frage, ob eine Huntington-Anlage besteht. Sie sagt jedoch weder das Wann noch das Wie der Krankheit voraus, bei der lediglich die Symptome behandelbar sind. Zur Therapie ausgeprägter Bewegungsstörungen werden unter anderem Antihyperkinetika wie Tiaprid oder Neuroleptika wie Haloperidol und Perphenazin eingesetzt. Neben den Serotonin-Wiederaufnahmehemmern hat sich Sulpirid bei depressiven Störungen bewährt. In der nicht medikamentösen Behandlung kommen psychotherapeutische Einzel- und Gruppengespräche, Sport-, Bewegungs- und Physiotherapie sowie die Logopädie gegen Schluckbeschwerden zum Einsatz. Lohkamp: "Psychotherapeutische Unterstützung kann auch für pflegende Angehörige sinnvoll sein, die sich häufig selbst überfordern und zwischen Überlastung, Schuldgefühlen und Aggressivität hin- und hergeworfen werden."
In Deutschland haben sich einige klinische Zentren auf die vorübergehende stationäre Aufnahme von Huntington-Kranken, einige Pflegeheime auf die Betreuung pflegebedürftiger Huntington-Patienten spezialisiert. Entsprechende Adressen vermittelt die Geschäftsstelle der Deutschen Huntington-Hilfe (Börsenstraße 10, 47051 Duisburg, Tel. 02 03/22 91 5). Ebenso informiert sie über Möglichkeiten der heimatnahen ärztlichen und pflegerischen ambulanten Betreuung. Lohkamp: "Unser größtes Anliegen jedoch ist es, Menschen zusammenzubringen und ihnen zu helfen, das Lachen nicht zu verlernen."
© 2001 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de