Medizin

Atopien auf dem Vormarsch
Allergien nehmen zu. Epidemiologische Untersuchungen gehen mittlerweile von einer kumulativen Prävalenz kindlicher atopischer Hauterscheinungen (Neurodermitis) zwischen 10 und 15 Prozent aus, erklärte Professor Dr. Brunello Wüthrich von der Dermatologischen Universitätsklinik Zürich im Oktober bei einem Allergie-Symposium in New York; Angaben zum Weiterbestehen der Atopien nach der Pubertät liegen mit 30 bis 60 Prozent heute deutlich höher als lange Zeit angenommen; über die Hälfte der atopischen Dermatiker leiden gleichzeitig an einer Allergie der Atemwege.
Rund jeder vierte Deutsche entwickelt im Laufe seines Lebens eine Allergie, bestätigte Professor Dr. Ulrich Wahn, Berlin, mit steigender Tendenz. "Wir sprechen von einem atopischen Marsch", so der Pädiater von der Kinderklinik des Virchow-Klinikums an der medizinischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität. "Die atopischen Babys von heute sind die möglichen Asthmapatienten von morgen."
Dabei spielen offenbar sowohl genetische als auch Umweltfaktoren eine entscheidende Rolle, betonte er bei der von UCB initiierten Veranstaltung. Wahn verwies auf Untersuchungen, die darauf hindeuten, daß die allergische Entwicklung (Antikörperbildung gegen bestimmte Allergene) in den ersten zwei Lebensjahren offenbar noch identisch verläuft, egal ob eine familiäre Vorbelastung vorhanden ist oder nicht: "Die Kurven gehen erst ab dem dritten Lebensjahr auseinander." Aus seiner Sicht ist das ein Hinweis darauf, daß die Allergisierung in den beiden ersten Jahren vor allem durch die Allergenbelastung von außen bestimmt wird. In erster Linie seien "Indoor"-Allergene wie Tierhaare, Hausstaubmilben und Tabakrauch von Bedeutung, postulierte er.
Was tun? Wahn plädiert in erster Linie für eine Prävention zur Senkung der Antigenbelastung. Also: In der Schwangerschaft und in Anwesenheit von Kindern nicht rauchen, Vermeidung von Allergenen, in den ersten sechs Lebensmonaten Babys möglichst stillen, keine Haustiere in den ersten Lebensjahren.
Wenn diese Ansätze nicht greifen, sei eine möglichst frühzeitige medikamentöse Behandlung (etwa mit Corticoiden oder Antihistaminika) angezeigt. Ab dem siebten Lebensjahr könne auch eine spezifische Immuntherapie (Desensibilisierung ) ins Auge gefaßt werden.
Durch eine frühzeitige Behandlung hoffe man, so Wahn, dem Übergang von atopischer Dermatitis im Kindesalter in Asthma bei Jugendlichen oder Erwachsenen vorbeugen zu können. Diese Hypothese werde seit 1994 in einer großangelegten, placebokontrollierten Multizenterstudie (ETAC, Early Treatment of Atopic Child) überprüft. Einbezogen sind mehr als 800 12- bis 24 Monate alte atopische Kinder in Europa und Kanada. Testmedikation über 18 Monate ist das H1-Antihistaminikum Cetirizin, als Beobachtungszeitraum sind drei Jahre geplant. Erste Behandlungsergebnisse werden 1997/1998 erwartet.
Verstärktes Augenmerk auf die Entzündung "Entzündliche Reaktionen spielen eine zentrale Rolle bei Allergien", postulierte Giorgio Walter Canonica, University of Genova, Italien. Logische Konsequenz sei es daher, bei der Behandlung antientzündliche Ansätze in den Vordergrund zu stellen. Er machte dies am Beispiel der allergischen Rhinitis und des Asthmas deutlich. Nach derzeitigem Kenntnisstand basiert die chronische Entzündung bei allergischen Atemwegserkrankungen auf einer Migration von Eosinophilen aus dem Blutkreislauf in die Atemwegsmukosa; dort werden aus den Granula der Eosinophilen entzündungsauslösende Mediatoren ausgeschüttet. Voraussetzung für die Eosinophilen-Migration sei die Expression von Adhäsionsmolekülen wie ICAM-1 auf den Epithelzellen der Atemwegsmukosa, erklärte Canonica. Die Eosinophilen benötigen diese als Haftungsstellen, um dort mit speziellen Ligandenstrukturen (LFA1, Mac 1) zu binden. Die Adhäsionsmoleküle haben eine weitere Funktion: Sie sind gleichzeitig der Rezeptor für rund 90 Prozent der menschlichen Rhinoviren. Damit lasse sich erklären, warum viele allergische Patienten (beispielsweise Stauballergiker) eine minimale persistierende Entzündung im Nasenbereich aufweisen, so Canonica.
Ausgehend von dieser Theorie überprüften Canonica und seine Arbeitsgruppe in zwei Studienmodellen, ob und inwieweit H1-Antihistaminika wie Cetirizin die ICAM-1-Expression auf den Epithelzellen therapeutisch beeinflussen können. In beiden Untersuchungen sei es durch den H1-Antagonisten gelungen, die ICAM-1-Expression und damit die Entzündungsreaktion zu reduzieren. Man gehe daher davon aus, daß die antiallergische Wirkung der Substanz nicht nur auf einer Histamin H1-Blockade beruhe, sondern zusätzlich auf einer Modulation der Adhäsionsmoleküle.
Gängige Lehrmeinung überholt? Sheldon L. Spector, Allergy Medical Clinic, Los Angeles, räumte mit dem alten Mythos auf, Antihistaminika verschlechterten die bronchiale Reaktion bei Asthma, weshalb sie bei Patienten mit gleichzeitig vorhandenen Allergien der oberen und unteren Atemwege nicht gegeben werden sollten. Spector stellte eine placebokontrollierte Doppelblindstudie an 12 Patienten vor, in der die Wirkung eines H1-Antihistaminikums (Cetirizin mono; 5, 10 oder 320 mg oral) mit einem ß-Sympatomimetikum (Albuterol mono; 180 ug Inhalat) und einer Kombination aus beiden verglichen worden war. Der Einfluß des H1-Blockers mono auf das FEV1 (forciertes Ausatemvolumen nach 1 Sekunde) sei in allen drei Dosierungen signifikant besser gewesen als unter Placebo, allerdings geringer als unter Albuterol. In Kombination der beiden Wirksubstanzen scheine sich der bronchodilatierende Effekt zu verstärken. Eine Verschlecherung der Lungenfunktion durch Cetirizin sei in keinem Fall zu beobachten gewesen.
PZ-Artikel von Bettina Schwarz, New York © 1996 GOVI-Verlag
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