Den Teufelskreis aus eigener Kraft durchbrechen |
10.11.2003 00:00 Uhr |
Ständiger Schmerz hat dramatische Folgen: Ungefähr jeder dritte Patient mit chronischen Schmerzen ist suizidgefährdet. Die Gemeinschaftsinitiative „Chronische Schmerzen“ will jetzt mit einer Kampagne über das Krankheitsbild und dessen Folgen aufklären.
Die Zahl derjenigen, die in Deutschland unter chronischen Schmerzen leiden, wird unterschiedlich beziffert. Während die neueste EMNID-Umfrage von 20 Millionen Betroffenen ausgeht, setzen andere Quellen die Zahl mit 6 Millionen wesentlich niedriger an. Unabhängig davon sprechen die überfüllten Praxen der Schmerzspezialisten eine eigene Sprache: In Deutschland kennen sich zu wenige Hausärzte mit chronischem Schmerz als Krankheitsbild aus, und Spezialisten auf diesem Gebiet sind dünn gesät. Dies wurde während des Expertengesprächs der Gemeinschaftsinitiative „Chronische Schmerzen“ vergangene Woche in Dresden deutlich, das im Vorfeld einer Publikumsveranstaltung stattfand (siehe Kasten).
Bei vielen chronischen Schmerzpatienten kommt es zu einer Entkopplung von der ursprünglichen Gewebeschädigung. Damit verliert der Schmerz seinen physiologisch sinnvollen, warnenden Charakter. Ein Beispiel hierfür ist der persistierende Schmerz nach einer zumindest anatomisch gelungenen Bandscheibenoperation. Ob Schmerzen chronifizieren, darüber entscheidet vor allem die soziale Situation der Patienten. Menschen, die ihre Situation zum Beispiel durch den Verlust des Arbeitsplatzes als ausweglos empfinden, entwickeln mit einer größeren Wahrscheinlichkeit chronische Schmerzen.
Mit Verständnis dürfen die Patienten auch von vielen Ärzten nicht rechnen. Denn Nichtbetroffene gehen grundsätzlich davon aus, dass der Schmerz wesentlich schwächer ist, als der Betroffene ihn empfindet, erklärte Rüdiger Fabian, Präsident der Deutschen Schmerzhilfe.
Viele Patienten geben sich auf
Patienten mit chronischen Schmerzen befinden sich meist in einem Teufelskreis aus Schmerz, gestörter Funktion und daraus resultierendem Bewegungsmangel, Angst, Hoffnungslosigkeit und Depression, erklärte Dr. Uwe Richter, Leiter des ambulanten und stationären Schmerzzentrums am DRK-Krankenhaus in Chemnitz. Viele verlieren im Verlauf der Erkrankung ihren Arbeitsplatz und geraten in die soziale Isolation. Nicht selten finden sie sich nach einiger Zeit vor dem Sozialgericht wieder, wo über ihre Rentenansprüche entschieden wird. Vor allem der gut gemeinte Rat eines Arztes, sich um die Rente zu kümmern, sei problematisch, erklärte Fabian. Denn damit fühlt der Patient sich aufgegeben und resigniert endgültig. Mit der Berentung ist sein Schicksal meist besiegelt.
Die soziale Absicherung hier zu Lande hat nicht nur positive Folgen. Denn um ihre Situation zu verbessern und den Teufelskreis zu durchbrechen, müssen sich die Betroffen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen und sich wieder aktiv an der Therapie beteiligen, betonte Richter. Patienten, die sich selbst aufgegeben haben, sind dazu nicht in der Lage. Der Schmerztherapeut möchte in seiner Klinik unter anderem den Ärztetourismus durchbrechen, den viele chronische Schmerzpatienten betreiben. Richter: „Ich versuche dem Chroniker wieder ein Zuhause zu geben.“ Denn nur durch die kontinuierliche Betreuung und Therapie sowie deren Kontrolle wird ein chronischer Schmerzpatient überhaupt wieder therapiefähig.
Frühzeitige Therapie gegen Chronifizierung
Dabei ist die Behandlung dieser Patienten nicht einfach. „Evidenced Based Medicine ist hier fast nicht möglich”, so Richter. Die Patienten sind meist multimorbide, nehmen daher viele verschiedene Medikamente ein, und ihre Beschwerden sind oft psychisch stark überlagert. Er plädierte für eine frühzeitige adäquate Schmerztherapie. Sie bietet die einzige Möglichkeit, eine Chronifizierung im Vorfeld zu verhindern. Sind chronische Schmerzen erst einmal entstanden, gestaltet sich die Therapie ungleich schwieriger.
Im Vorfeld muss die Schmerzintensität eingeschätzt und dokumentiert werden, erklärte die Allgemeinmedizinerin Ingrid Pawlik. Erst dann sollten sich Arzt und Patient gemeinsam Ziele der Therapie setzen. „Vielen Patienten ist schon geholfen, wenn sie dank einer adäquaten Therapie wieder schlafen können“, erklärte die Ärztin. „Schmerztherapie braucht Zeit und nicht die Betreuung im Minutentakt“, sagte sie. Wichtig sei auch, die Familie einzubinden.
Ob präventive Maßnahmen wie Rückenschule und Bewegung tatsächlich vor chronischen Rückenschmerzen schützen, stellte Fabian in Frage. Hat sich doch bei einer Untersuchung in Göttingen als bedeutendster prädiktiver Faktor für das Auftreten von Rückenschmerzen die Unzufriedenheit am Arbeitsplatz herausgestellt, führte Fabian aus. In der integrierten Versorgung sahen sowohl Vertreter der Krankenkassen als auch der Ärzte und Selbsthilfeverbände eine Chance für die Schmerzpatienten.
Die Initiative An der Gemeinschaftsinitiative „Chronische Schmerzen“, Arbeitskreis Sachsen, sind Schmerzspezialisten, Vertreter von Selbsthilfegruppen, verschiedene Krankenkassen, die Deutsche Schmerzhilfe e. V sowie der Sächsische Apothekerverband und Vertreter der pharmazeutischen Industrie beteiligt. Mit Flyern und Plakaten in regionalen Apotheken und Arztpraxen macht die Initiative derzeit auf die Publikumsveranstaltung am 29. November im Deutschen Hygiene-Museum Dresden aufmerksam. Von 10 bis 13 Uhr können sich Interessierte dort über Differenzialdiagnose, Therapie und psychosoziale Begleitung chronischer Schmerzpatienten informieren.
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