Medizin
Alzheimer: Kausaltherapie steht
noch aus
Hauptrisikofaktor für die
Alzheimer-Demenz ist das Alter. Außerdem erhöhen
bestimmte genetische Faktoren das Erkrankungsrisiko. Ist
also die beste Möglichkeit, diesem Leiden zu entgehen,
»die Eltern sorgsam auswählen und möglichst früh
sterben«, wie Professor Dr. Christian Haaß, Mannheim,
riet? Das 4. Mainzer Forum Medizinische Chemie
vermittelte pathophysiologische Aspekte der Erkrankung
und stellte neue Therapieansätze vor.
Im Gehirn verstorbener Alzheimer-Patienten
finden sich intrazelluläre Neurofibrillenbündel und
Plaques, die aus einem speziellen Amyloid mit einer
Molmasse von etwa 4000 bestehen. Hauptbestandteil der
Amyloid-Plaques ist das Amyloid-ß-Protein
(ß-A4-Protein). Es könne spontan unlösliche Aggregate
bilden. Die Fibrillen wirkten neurotoxisch durch
Überladung der Neuronen mit Calciumionen. Die Folge ist
ein Untergang cholinerger Neurone, den Patienten
behindern Lern- und Gedächtnisstörungen.
Das Amyloid-ß-Protein ist ein Fragment eines
höhermolekularen Vorläuferproteins, dem
Amyloid-Precursor-Protein (APP). APP unterliegt mehreren
Stoffwechselwegen, nur im Krankheitsfall wird der Weg zum
ß-A4-Protein eingeschlagen. Physiologisch ist der
alpha-Sekretase-Weg: Die alpha-Sekretase zerschneidet APP
genau im ß-A4-Protein-Abschnitt, so daß dieses keine
Aggregate mehr bilden kann. Der sekretierte APP-Rest
(APPs) besitzt neurotrophe und neuroprotektive
Eigenschaften. So stabilisiert es die
Calciumionen-Homöostase in Neuronen. Wird dagegen APP im
ß-Sekretase-Weg umgesetzt, so entsteht ß-A4-Protein
durch die Enzyme ß- und y-Sekretase.
Gendefekte verantwortlich
Je älter, desto wahrscheinlicher Alzheimer? Ab
65 Jahre steigt die Prävalenzrate für die
Alzheimer-Krankheit exponentiell und verdoppelt sich etwa
alle fünf Jahre: Etwa 3 Prozent der über 65jährigen
leiden unter der Krankheit, bei den über 85jährigen hat
sie bereits jeder Zweite. Ausbruch und Progression der
Neurodegeneration werden durch genetische Faktoren
bestimmt, faßte Haaß zusammen. Dazu gehörten vor allem
die Allel-Varianten des Apolipoproteins E (ApoE),
verschiedene Mutationen im APP-Gen und in
Presenilin-Genen sowie eine Mutation auf dem Chromosom
21. Es trägt die Erbinformation für APP. Das Alter, in
dem die Krankheit einsetzt, ist wahrscheinlich abhängig
davon, welche Mutation vorliegt. Mutationen im
Presenilin-Gen assoziiere man mit einem relativ frühen
Ausbruch.
Von den drei möglichen Allelen des ApoE-Gens komme das
ApoE E4-Allel bei Alzheimer-Kranken vier- bis sechsmal
häufiger vor als bei Gesunden. Punktmutationen im
APP-Gen seien für die erbliche Form der Alzheimer-Demenz
verantwortlich. Dadurch würden innerhalb oder in der
Umgebung des Amyloid-ß-Protein-Abschnitts im APP
Aminosäuren ausgetauscht mit der Konsequenz, daß mehr
ß-A4-Protein gebildet wird. Weitere Erbfaktoren, die
Morbus Alzheimer prädisponieren, sind nach Worten Haaß'
in der Presenilin-Genfamilie zu suchen.
Eine kausale Therapie fehlt bisher, ansatzweise haben
sich folgende Möglichkeiten herauskristallisiert:
Verschiebung des APP-Stoffwechsels zugunsten
neuroprotektiven APPs und Wiederherstellung der
cholinergen Impulsübertragung. Zu Punkt eins vermerkte
Haaß: "Es wäre ideal, die ß- und y-Sekretase
direkt zu hemmen, denn dann könnte sich kein
ß-A4-Protein mehr bilden." Die spezifische
Inhibition sei jedoch bisher nur in vitro möglich, weil
die beiden Enzyme als Proteasen vielfältige
physiologische Aufgaben erfüllten.
"Zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt man mit
Muscarin-Agonisten. Sie greifen einerseits in den
APP-Stoffwechsel ein und beeinflussen zudem die
cholinerge Neurotransmission", so jedenfalls Dr.
Werner Stransky von Boehringer Ingelheim. Das
Pharmaunternehmen hat Talsaclidin in der klinischen Phase
II, einen selektiven M
1-Vollagonisten
mit partiellagonistischen Eigenschaften an M
2- und M
3-Rezeptoren.
Talsaclidin ist ein Bioisoster von Acetylcholin, in dem
die in vivo instabile Estergruppe durch eine Seitenkette
mit Dreifachbindung ersetzt ist.
M
1-Rezeptoren kommen
ausschließlich in neuronalen Strukturen vor, sie sind in
postsynaptischen Nervenzellmembranen lokalisiert. Um die
Acetylcholinfreisetzung im Gleichgewicht zu halten,
existieren zusätzlich M
2-Rezeptoren
als präsynaptische m-Cholinozeptoren. "Stimulieren
M
1-Agonisten ihren
Rezeptor, wird verstärkt APPs sekretiert und die
APP-Spaltung mittels der ß-Sekretase wird
zurückgedrängt", erklärte Stransky. Im Falle des
Talsaclidins werde die APPs-Sekretionsrate immerhin um
das 25fache gesteigert. Vorteile von M
1-Agonisten
gegenüber Acetylcholinesterase-Hemmern wie Tacrin seien
darin begründet, daß sie auch bei fortgeschrittener
Degeneration der Neuronen noch wirken. Weitere M
1-Agonisten befänden sich in
der Pipeline von Eli Lilly (Xanomelin) und Hoechst
(Miramelin).
Dr. Ulrike Küfner-Mühl, Boehringer Ingelheim, sieht in
Adenosinrezeptoren (gleich Purinorezeptoren) eine neue
Anlaufstelle, die cholinerge Signalübertragung zu
beeinflussen. Adenosin greift auch in andere
Neurotransmittersysteme wie in das serotoninerge,
noradrenerge oder dopaminerge ein. Da Alzheimer-Patienten
nicht nur in der cholinergen Erregungsübertragung
Defizite haben, sondern auch andere Neurotransmitter zu
wenig bilden, scheinen Adenosinrezeptoren für die
Therapie der Krankheit eine sinnvolle Angriffsstelle zu
sein.
PZ-Artikel von Elke Wolf, Mainz
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