Meist sind Kinder betroffen |
22.09.2003 00:00 Uhr |
Orphan Diseases: Auf Grund ihrer Seltenheit sind sie die Waisenkinder unter den Krankheiten. Nimmt man jedoch alle Patienten in Deutschland zusammen, die an einer solchen Erkrankung leiden, so ergibt dies die stattliche Zahl von fünf bis acht Millionen Menschen, hieß es während einer Pressekonferenz der Orphan Europe GmbH in Berlin.
Zu den Orphan Diseases zählen alle Erkrankungen, die bei weniger als 5 von 10.000 Personen auftreten, so die in der Europäischen Union gültige Definition. Sehr viele dieser Patienten sind Kinder. Von den insgesamt etwa 30.000 heute bekannten Krankheiten zählen rund 5000 zu den Orphan Diseases. Meist handelt es sich dabei um Stoffwechselstörungen, aber auch bestimmte Krebsformen, Infektionskrankheiten oder neurologische Erkrankungen. Der Großteil dieser – häufig lebensbedrohlichen – Erkrankungen ist genetisch bedingt.
Nur die wenigsten sind einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Eine Ausnahme bildet dabei die Mukoviszidose. Aber wer kennt schon Harnstoffzyklusdefekte oder Krankheiten wie Tyrosinose Typ 1 oder Porphyrien? Inzwischen können durch das erweiterte Neugeborenen-Screening mehr als 20 verschiedene Erkrankungen frühzeitig erkannt werden. Etwa jedes fünfhundertste Neugeborene leidet unter einer angeborene Stoffwechselerkrankung. „Pro Jahr sind dies etwa 1400 Kinder, die einer besonderen Nachsorge und eventuellen Behandlung bedürfen“, sagte Professor Dr. Friedrich Trefz vom Klinikum am Steinenberg, Reutlingen, vor Journalisten in Berlin.
Ohne die rasche Diagnose und damit ohne Therapie erleiden viele der erkrankten Neugeborenen einen frühen Tod im Koma. Bei den überlebenden Kindern kommt es zu Wachstumsstörungen und Störungen in der geistigen Entwicklung. Später treten dann auch Organschäden auf. Kohlehydrat-, Eiweiß- oder Fettstoffwechsel können betroffen sein, und bei manchen Erkrankungen treten Defekte im Bereich von Zellstrukturen auf.
Porphyrie oft spät diagnostiziert
Bei zahlreichen Orphan-Erkrankungen, wie auch bei der Porphyrie, ist die Diagnose nach wie vor nicht einfach. So sind etwa die Symptome Übelkeit, Erbrechen und Bauchschmerzen recht unspezifisch. In einem Alter von zwölf Jahren traten sie bei der Porphyrie-Patientin Miriam Preuß erstmals gehäuft auf. Die Diagnose lautete zunächst Bulimie. Mit 17 wurde ihr der Blinddarm entfernt, mit 18 ein nicht vorhandener Darmverschluss operiert. Der Tod eines Familienmitglieds brachte die Ärzte dann auf die Spur der Erbkrankheit Porphyrie.
Der komplexen Stoffwechselerkrankung liegt ein spezifischer, genetisch determinierter Defekt von Enzymen der Häm-Biosynthese zu Grunde. Wegen der eingeschränkten Enzymaktivität oder des weitgehenden Abfalls des Enzymspiegels sinkt die Konzentration an Häm. „Falsche Medikamente können bei dieser Krankheit lebensbedrohliche Porphyrie-Attacken auslösen“, sagte Trefz. Aber auch ohne falsche Arzneimittel erlebte Miriam Preuß Lähmungserscheinungen in ihren Beinen und fiel des öfteren ins Koma. Wie sie, haben viele Porphyrie-Kranke eine Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich, bis die richtige Diagnose feststeht. Durch eine Metabolitenanalyse in Urin, Stuhl und Blut können Ärzte die Krankheit diagnostizieren, die sowohl in chronischer als auch in akuter Form auftritt.
Bei der Tyrosinose Typ 1 handelt es sich um eine Abbaustörung der aromatischen Aminosäure Tyrosin. Bei der autosomal rezessiv vererbten Störung treten Schäden in Leber, Niere und im peripheren Nervensystem auf. Zum komplexen Krankheitsbild gehören außerdem Wachstumsstörungen. Sogar eine komplette Lähmung ist möglich, wenn die Behandlung unterbleibt. Wird die Entstehung des alternativen Abbauproduktes Succinylaceton in der Abbaukaskade des Tyrosins nicht verhindert, kann dieses neben seiner organschädigenden Wirkung auch seine karzinogenen Eigenschaften entfalten. Ohne Therapie sterben fast alle betroffenen Kinder bereits im Schulalter an Leber- oder Nierenkrebs. Succinylaceton und auch das alternative Abbauprodukt Succinylacetoacetat werden als diagnostische Marker im Urin genutzt.
Ammoniak schädigt Nervengewebe
Ein Harnstoffzyklusdefekt liegt dann vor, wenn der Harnstoffzyklus soweit gestört ist, dass das unschädliche Stickstoff-Ausscheidungsprodukt nur noch ungenügend gebildet wird. In Form des stark neurotoxisch wirkenden Ammoniaks reichert sich Stickstoff dann in Blut und Geweben an. Rasch kann es bei hohen Konzentrationen zu bleibenden Hirnschäden kommen. „Etwa 100 Patienten sind derzeit in Deutschland an dem Leiden erkrankt“, sagte Dr. Barbara Donnerstag von der Orphan Europe GmbH.
Die Symptome der Krankheit beim Neugeborenen sind Lethargie, Trinkschwäche und Erbrechen. Beim älteren Säugling kann das Auftreten einer Enzephalopathie mit Bewusstseinsstörung und neurologischer Symptomatik die Diagnose erleichtern. Die häufigsten Symptome im Kindes- und Erwachsenenalter sind Appetitlosigkeit, Lethargie, Reizbarkeit, Unruhe und Verhaltensauffälligkeiten bis hin zur Verwirrtheit. Für die Diagnostik ist Plasmaammoniak der wichtigste zu bestimmende Parameter.
Fatale Verbindung
Zu den nicht erblichen Orphan-Erkrankungen gehört der persistierende Ductus arteriosus. Er tritt bei Frühgeborenen auf, deren Geburtsgewicht unter 1500 Gramm liegt. „Von den jährlich 750.000 Neugeborenen in Deutschland leiden etwa 2200 Kinder daran“, sagte Donnerstag. Der Ductus arteriosus stellt im fetalen Kreislauf die Verbindung zwischen Truncus pulmonalis und Aortenbogen sicher. Normalerweise schließt er sich bei der Geburt. Tut er dies nicht, so macht sich dies als angeborener Herzfehler bemerkbar. Die Wahrscheinlichkeit an einem persistierenden Ductus arteriosus zu erkranken, beträgt bei Frühgeborenen etwa 20 Prozent.
Es gibt aber auch unter den Orphan Diseases Erkrankungen des Kindes im Mutterleib, die durch eine Stoffwechselerkrankung der Mutter ausgelöst werden. Ein Beispiel hierfür ist die maternale Phenylketonurie. „In einer internationalen Studie konnten wir zeigen, dass die ansonsten schweren Schäden des werdenden Kindes durch die Behandlung der Frau vor und während der Schwangerschaft verhindert werden können“, sagte Trefz. Der Phenylketonurie liegt eine Abbaustörung der Aminosäure Phenylalanin zu Tyrosin zu Grunde. Klassisch wird sie mit einer halbsynthetischen Diät behandelt, um den Phenylalaninspiegel zu senken. Bleibt die Behandlung aus, sterben viele der Kinder an einem Herzfehler. Wenn sie überleben, leiden sie zudem an einer geistigen Behinderung.
Nur etwa 35 der insgesamt 500 seltenen Stoffwechselerkrankungen können derzeit behandelt werden. Die Waisenkinder unter den Krankheiten sind für große forschende Pharmaunternehmen in der Regel nicht sonderlich lukrativ, so dass oft kleine Firmen sich auf diesem Gebiet engagieren. Schließlich gibt es meist weniger als hundert Patienten mit einer bestimmten Erkrankung.
Angesichts der Situation fordern Ärzte wie auch Pharmaunternehmen Regelungen aus anderen Ländern der Europäischen Union in Deutschland zu übernehmen. „Anders als im europäischen Ausland dürfen Arzneimittel, die nicht zugelassen sind, bei uns nicht ausgegeben werden, auch wenn das Krankheitsbild dies dringend erfordert“, sagte Eberhard Kroll von der Orphan Europe GmbH. Viele Kranke müssten daher unnötig lange auf Hilfe warten.
Außerdem wünscht sich der Geschäftsführer von der Politik die Rücknahme der
16-Prozent-Rabattregelung für innovative Arzneimittel bei Orphan Drugs. Denn
sonst „könnte die Gesundheitsreform die Waisenkinder der Medizin weiter ins
Abseits stellen“, befürchtet Kroll.
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