Ventil entscheidet über Lebensqualität |
25.08.2003 00:00 Uhr |
Welche Schule wird es besuchen? Welchen Beruf kann es erlernen? Wie stehen die Chancen für seine körperliche und geistige Entwicklung? Ein Kind, tausend Fragen. Das gilt besonders für Eltern, die nach der Geburt eines Sohnes oder einer Tochter mit der Diagnose „Hydrocephalus“ konfrontiert werden.
Wie Magdalene Merkel, Essen, Mutter des heute 15-jährigen Jonathan, der mit einem angeborenen Hydrocephalus das Licht der Welt erblickte. Völlig unvorbereitet, so die 45-jährige ehemalige Kirchenmusikerin, habe sie damals Hilfe gebraucht, um sich mit der neuen Situation vertraut zu machen und das komplizierte Krankheitsbild zu verstehen. „Eine Sozialpädagogin hat mir die Adresse der Arbeitsgemeinschaft Spina bifida und Hydrocephalus – ASbH e. V., Dortmund, in die Hand gedrückt“, so Merkel. Dort habe sie das notwendige Verständnis und die so dringend gesuchte Unterstützung gefunden.
Viele Ursachen
„Oft beklagen betroffene Eltern nicht nur Diskriminierung in der Öffentlichkeit, sondern auch mangelnde Information und Betreuung durch Ärzte und Kliniken“, bestätigt ASbH-Geschäftsführer Wilhelm Langenhorst. Er betont, dass die umgangssprachliche Bezeichnung Wasserkopf heute obsolet ist. Längst spreche man bei der Störung des Hirnwasserkreislaufes nur noch in der griechischen Übersetzung.
So vielfältig wie das Beschwerdebild können die Ursachen sein. Sie reichen von der so genannten zweigeteilten Wirbelsäule „Spina bifida“ über Zysten und Sauerstoffmangel im Gehirn der Feten sowie Infektionen (Toxoplasmose) der werdenden Mutter bis hin zu Tumoren, Blutungen und Entzündungen nach der Geburt oder in späteren Lebensjahren. Dabei kann sowohl die vermehrte Liquorproduktion als auch die gestörte Liquorpassage für Schädigungen des Hirn- und Nervengewebes verantwortlich sein. Nicht immer ist es möglich, die genaue Ursache festzustellen – Experten sprechen dann von einem idiopathischen Hydrocephalus. Nur äußerst selten liegt eine genetische Prädisposition vor.
Störung der Liquorpassage
Der Rückenmarkkanal weitet sich im menschlichen Gehirn zu vier mit Liquor cerebrospinalis gefüllten Kammern, den Hirnventrikeln. Diese sind durch enge Kanäle miteinander verbunden, die bei Gesunden eine rege Zirkulation der 120 bis 500 Milliliter Gehirnkammerwasser gewährleisten. Bei einem Hydrocephalus staut sich das Hirnwasser und treibt das umgebende Hirngewebe sowie die inneren Hirnkammern auseinander.
Bei älteren Kindern und Erwachsenen stehen auf Grund der bereits abgeschlossenen Verknöcherung des Schädels infolge des nunmehr erhöhten Druckes in den Liquorräumen Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen im Vordergrund der Symptomatik. Bei Feten, Säuglingen und Kleinkindern hingegen ist das klinische Bild zumeist durch Zunahme des Kopfumfanges in zum Teil erheblichem Ausmaß sowie zentralnervöse Ausfallserscheinungen, Wesenveränderungen und Verhaltensstörungen gekennzeichnet. Ein lang anhaltender Druck auf das Gehirn hat nachhaltige Folgen für die geistige Entwicklung des Kindes. Meist ist die sofortige Operation erforderlich.
Implantation von Ventilen
„In der Medizingeschichte sind viele erfolglose Versuche bekannt, das Hirnwasser mittels einer externen Drainage abzuleiten, doch erst seit circa 1960 sind nicht zuletzt durch die Verwendung von Silikon die Voraussetzungen für eine effektive Dauerlösung geschaffen“, so Langenhorst. Eine Dauerlösung, die keinesfalls komplikationsfrei ist: Wird der Abfluss des Hirnwassers in den Bauchraum heute mit implantierbaren Schläuchen und Ventilen (Shunts) geregelt, so sind bei den meisten Patienten zahlreiche Nachoperationen erforderlich.
Zwar hat sich die Shunt-Technik mittlerweile weltweit zu einem einträglichen Geschäft mit mehr als 120 Produkten entwickelt und intergriert immer neue Techniken bis hin zu Versuchen mit Mikroprozessoren zur elektronischen Steuerung des Flüssigkeitsdurchlaufs. Doch handelt es sich bei allem Fortschritt letztlich um eine symptomatische Therapie mit Tücken. Das Implantat kann verstopfen oder Entzündungen hervorrufen, weitere chirurgische Eingriffe sind dann unumgänglich.
Schwer regulierbar
Wachstumsbedingt muss der Schlauch bei Kindern zumeist im Alter von fünf bis acht Jahren verlängert werden. Im Jahr nach Erstanlage eines Ventils kann es bei circa 20 bis 40 Prozent auch bei Erwachsenen zu Defekten kommen, erläutert Langenhorst. Danach liege das Risiko eines Shuntversagens immer noch bei ungefähr fünf Prozent pro Jahr.
Im Alter von zwei Jahren hatte Jonathan bereits 13 chirurgische Eingriffe hinter sich, bis heute musste er sich 27-mal einer Operation unterziehen. Zurzeit ist es eine starke Überdrainage, die ihm das Leben erschwert und dazu beiträgt, dass er die Schule nur zwei Stunden pro Tag besuchen kann. Jonathan muss sich regelmäßig hinlegen, um so der überstarken Hirnentwässerung durch Sogwirkung in aufrechter Körperhaltung entgegenzuwirken.
Die Zwischenschaltung so genannter „Shunt-Assistenten“ hat zwar ein wenig Linderung gebracht, konnte aber das Problem nicht grundsätzlich lösen. Schwer regulierbare Liquordruckschwankungen gehen nicht nur mit einer geringen Belastbarkeit und Aufnahmefähigkeit, sondern auch mit erhöhter Empfindlichkeit für akustische Reize, Aggressivität oder Apathie einher, berichtet seine Mutter. Zu enge Ventrikel infolge lang anhaltender Überdrainage können durchaus auch den Verlust von Hirnsubstanz bedeuten, so Merkel, heute ASbH-Vorstandsmitglied. Mehr als andere Eltern müssen Mütter und Väter Hydrocephalus-erkrankter Kinder lernen, diese „loszulassen“. Merkel: „Die Sorge bleibt“.
65 regionale Gruppen
Welchen körperlichen und geistigen Entwicklungsstörungen und Behinderungen muss Rechnung getragen werden? Wird die Sehkraft beeinträchtigt? Leidet die Psyche? Was ist bei Krampanfällen zu tun? Muss ich das Shunt-System für immer tragen? Die Beantwortung der zahlreichen Fragen kann stets nur individuell gemäß der jeweiligen Gegebenheiten erfolgen, die wiederum von den Grunderkrankungen und -traumata abhängen und von keinerlei sichtbaren Störungen bis hin zu schweren Mehrfachbehinderungen reichen.
Langenhorst verweist auf 65 regionale Selbsthilfegruppen des ASbH-Bundesverbandes, in denen erfahrene Eltern neu betroffenen Müttern und Vätern zur Seite stehen. Erwachsene Hydrocephalus-Erkrankte können hier das Gespräch zu anderen suchen. Der 3500 Mitglieder starke Verband bietet nicht nur Förderprogramme für Menschen mit Hydrocephalus und/oder Spina bifida (in Deutschland sind 100.000 Menschen betroffen), organisiert Tagungen und Seminare, sondern er dient auch und vor allem der Begegnung. „Der gegenseitige Austausch macht nicht zuletzt die Angst erträglicher, die ein lebenslanger Begleiter sein kann“, sagt Langenhorst und zitiert eine 22-jährige Patientin: „Nur solange mein Ventil funktioniert, funktioniere auch ich.“
Arbeitsgemeinschaft Spina bifida und Hydrocephalus – ASbH e. V.
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