Nackenverspannungen durch Dystonien? |
12.08.2002 00:00 Uhr |
Dystonien sind möglicherweise häufiger als bisher angenommen. Neurologen haben Hinweise darauf gefunden, dass bestimmte Formen chronischer Nackenmuskelverspannungen sowie vermeintliche Bandscheibenbeschwerden möglicherweise den so genannten dystonen Bewegungsstörungen zuzurechnen sind.
Dystonien sind das Gegenstück zur häufigsten neurologischen Bewegungsstörung, dem Morbus Parkinson. Während die Parkinsonsche Krankheit auf Grund von Gewebeveränderungen in bestimmten Hirnarealen zu einer Versteifung unterschiedlicher Muskelgruppen führt, verursacht bei den als Dystonien bezeichneten Erkrankungen das außer Kontrolle geratene, erbsengroße Palladiumglied (Globus pallidus internus, GIP) in der Tiefe des Gehirns die bisweilen äußerst schmerzhaften Beschwerden. Zu den dystonen Bewegungsstörungen zählen Blinzeltick und Schiefhals sowie Krämpfe im Augenlid, Schreibkrämpfe, Musiker-, Stimmband-, Mund-, Zungen- und Schlundkrämpfe.
Gelenke schwer geschädigt
Normalerweise kontrolliert die Ansammlung aus Stammganglienzellen des GIP Bewegungsabläufe, indem sie die Signale zur An- und Entspannung der Muskeln im Gleichgewicht hält. Bei Dystonie-Patienten scheint dieser Regelungsmechanismus aus bislang ungeklärten Gründen zu versagen. Anspannungssignale werden nicht mehr gebremst, Muskelkontraktionen und Überbeweglichkeit sind die Folgen dieser Störung, an deren Ende schwerste Skelett-Deformierungen, Versteifungen und Verkürzungen von Sehnen, Bändern und Gelenken stehen. Sie können so behindernd und schmerzhaft sein, dass ein normales Leben unmöglich wird. Arbeitsplatzverlust, Ausgrenzung und Vereinsamung drohen, je ausgeprägter das Erscheinungsbild ist.
Schlimmstenfalls steht für Betroffene im Wortsinne die Welt auf dem Kopf. Dann, wenn der Kopf ganz tief in den Nacken gezogen wird und ein Gehen nur noch mit grotesk anmutenden, drehenden Bewegungen möglich ist. Neurologen sprechen dann von einer generalisierten Dystonie, weil eine Vielzahl von Muskelgruppen betroffen ist. Solche Formen beginnen oft bereits im Kindesalter. Nach Angaben der Deutschen Dystonie Gesellschaft sind hierzulande 15.000 Menschen davon betroffen. Die Zahl der Dystoniker insgesamt schätzt der Verband auf 80.000, von denen 28.000 behandelt werden.
Noch bis vor zehn Jahren betrachtete man Dystonien als Ausdruck einer psychischen Erkrankung. Und selbst heute noch werden vereinzelt Betroffene auf Grund der nicht sichtbaren Ursachen als Simulanten abgetan. Für einige wenige Dystonie-Formen scheint inzwischen eine genetische Ursache verantwortlich. Andere können durch Unfall, Schlaganfall, Tumoren oder Medikamente ausgelöst werden.
Bislang mussten sich Neurologen bei der Diagnose rein auf die Beobachtung der Symptome beschränken. Inzwischen gelingt es aber in einigen Zentren, die Aktivierung des verdächtigen Hirnareales mit der Magnetresonanztomografie sichtbar zu machen. Heilbar sind Dystonien bislang nicht. Die Symptome lassen sich jedoch heute immer besser beherrschen. Für die Betroffenen bedeutet dies einen Gewinn an Lebensqualität.
Der seltenen Form der Dopa-responsiven Dystonie liegt ein Enzymdefekt zu Grunde - ähnlich wie beim Morbus Parkinson. Dadurch produziert das Gehirn den Botenstoff Dopamin nur unzureichend. Nach Gabe von L-Dopa reduzieren sich die Beschwerden. Vereinzelt helfen auch Anticholinergika. "Die derzeit besten Erfolge haben wir aber mit dem Nervengift Botulinum erzielt", berichtet Professor Dr. Georg Becker, Direktor der Universitäts-Neurologie Homburg/Saar. In den betroffenen Muskel injiziert, blockiert das Gift die Kontakte zwischen Nerven- und Muskelzellen. Der Muskel wird damit gelähmt und entspannt sich (siehe auch "Botulinumtoxin gegen Spasmen"). Nachteil: "Weil sich die Nervenzellen regenerieren und neue Kontakte bilden, muss die Behandlung nach durchschnittlich drei Monaten wiederholt werden."
Schrittmacher im Gehirn
Derzeit sammeln Neurologen weltweit an verschiedenen Zentren auch Erfahrungen mit einem so genannten Hirnschrittmacher. Patienten mit generalisierter Dystonie wird eine Elektrode in das Impuls gebende Hirnareal eingepflanzt. Ein unter der Haut über dem Brustmuskel sitzender Generator erzeugt dann einen Gegenimpuls zum Muskelanspannungssignal. Langzeiterfahrungen fehlen bislang, denn erst 80 solcher Schrittmacher sind im Einsatz.
Möglicherweise könnte aber eine neue Spur zu weiteren Behandlungsmöglichkeiten führen. "Wir haben aktuelle Hinweise dafür, dass bei Dystonikern der Kupferstoffwechsel gestört ist", sagt Becker. Eine Behandlung sei aber noch lange nicht in Sicht, da die Beeinflussung des Kupferstoffwechsel im Gehirn kompliziert sei. Die aktuellen Beobachtungen legen auch den Verdacht nahe, dass einige Patienten mit chronischen Nackenmuskelverspannungen ebenfalls Dystoniker sind. Becker: "Wir haben zeigen können, dass bei solchen Patienten die gleichen Hirnareale aktiv sind, dass ihre Beschwerden unter Stress wie bei Dystonikern zunehmen, dass manche von ihnen im Gegensatz zu Gesunden auf L-Dopa ansprechen und dass auch bei ihnen der Kupferstoffwechsel gestört ist."
In Würzburg haben Neurologen die gleichen Befunde bei Bandscheibenpatienten erhoben, die trotz Operation unter Schmerzen litten. Bei den 13 Patienten könnten unwillkürliche Muskelanspannungen die Bandscheibenproblematik verursacht haben, so die Vermutung. Sollten sich die Hinweise bestätigen, könnten möglicherweise in Zukunft solche Patienten profitieren, denen bislang weder Krankengymnastik, Stressbewältigungsprogramme, Psychotherapie, Medikamente noch Operationen geholfen haben.
© 2002 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de