Leptin nimmt Übergewichtige nicht aus der Pflicht |
16.08.1999 00:00 Uhr |
Ein Defekt in der Wirkung des Fettgewebshormons Leptin begünstigt die Entwicklung einer Hyperinsulinämie als Vorstufe des Typ-2-Diabetes. Diesen Schluss zieht der Mediziner Dr. Jochen Seufert, Medizinische Poliklinik der Universität Würzburg, nach umfangreichen molekular- und zellbiologischen Arbeiten. Das Wissen um die Wechselwirkungen zwischen Leptin und Insulin eröffnet neue Ansätze in der Entwicklung von Arzneistoffen. Für seinen Beitrag zum Verständnis der Entstehung eines Diabetes mellitus erhielt Seufert in diesem Jahr den Theodor-Frerichs-Preis der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin.
PZ: Welche Aufgaben hat das Hormon Leptin im gesunden Organismus?
Seufert: Man geht derzeit davon aus, dass Leptin im ZNS das Sättigungsgefühl beziehungsweise die Nahrungsaufnahme steuert. Zusätzlich hat Leptin aber noch andere Funktionen; beispielsweise hemmt es die Insulinsekretion im endokrinen Pankreas. Beim gesunden Menschen kontrolliert Leptin damit eine überschießende Insulinsekretion, die zu einer vermehrten Fettbildung führen würde. Insulin seinerseits stimuliert am Fettgewebe die Expression, Produktion und Sekretion von Leptin, was zur Entwicklung einer Hyperleptinämie beitragen kann. Damit hat man also einen Regelkreis zwischen den b-Zellen des endokrinen Pankreas und dem Fettgewebe, in dem sich Leptin und Insulin gegenseitig regulieren. Es handelt sich um einen klassischen Feedback-Mechanismus, den wir als adipoinsulären Regelkreis bezeichnen.
PZ: Wie kann sich die Funktionsweise von Leptin bei übergewichtigen Menschen verändern?
Seufert: Übergewichtige Menschen, die hohe Insulinspiegel, viel Fettgewebe und dadurch wiederum hohe Leptinspiegel haben, müssten mit dem übermäßigen Essen aufhören, weil hohe Leptinspiegel das Sättigungsgefühl im Gehirn eigentlich verstärken. Genau das ist aber nicht der Fall. Deshalb muss man davon ausgehen, dass die Leptinwirkung beim Übergewichtigen nicht ausreicht beziehungsweise defekt ist. Mutationen der Gene des Leptinrezeptors und des Leptins selbst kommen aber beim Menschen sehr selten vor, wahrscheinlich handelt es sich deshalb um einen Defekt in der intrazellulären Reaktionskaskade, die durch die Bindung des Leptins an den Rezeptor initiiert wird.
Überträgt man diesen Defekt auf die b-Zellen, könnte sich aus der gestörten Leptinwirkung eine Hyperinsulinämie entwickeln, da das Hormon nicht mehr in der Lage ist, eine übermäßige Insulinsekretion zu hemmen. Genau diesen Befund findet man häufig bei übergewichtigen Patienten mit prädiabetischem oder metabolischem Syndrom.
PZ: Im Körper Fett zu speichern, müsste doch eigentlich von der Evolution erwünscht sein. Ist in diesem Sinne eine defekte Leptinkontrolle nicht eher von Vorteil?
Seufert: Die Fettspeicherung im Körper war sicher ein evolutorischer Vorteil, allerdings nur solange das Individuum ausreichend mobil blieb. Bei einer defekten Leptinkontrolle scheint eine an die Lebensumstände angepasste Speicherung von Körperfett nicht mehr gewährleistet zu sein.
PZ: Warum besteht die Gefahr, einen Diabetes zu entwickeln, wenn ein Leptindefekt vorliegt ?
Seufert: Wahrscheinlich erhöht eine Hyperinsulinämie die Insulinresistenz im Fett- und Muskelgewebe. Das wiederum provoziert die Bauchspeicheldrüsen, verstärkt Insulin zu bilden. Am Ende steht die Erschöpfung der b-Zellen und damit ein Diabetes mellitus.
PZ: Warum trifft die Funktionsstörung von Leptin nicht alle übergewichtigen Menschen?
Seufert: Vermutlich ist der Leptindefekt nicht der einzige Mechanismus für die Entstehung eines Diabetes. Es kommen noch weitere genetische Faktoren dazu. Wissenschaftler diskutieren auch einige Umweltfaktoren, die zum Verlust der b-Zellreserve beitragen könnten.
Derzeit laufen auch bei uns in der Klinik Studien mit übergewichtigen Patienten, die keine Hyperinsulinämie haben. Wir testen, ob Leptin am Pankreas dieser Menschen besser wirkt und ob es vielleicht Abstufungen gibt.
PZ: Weiß man, ob der Mensch erst nach einem Leptindefekt dick wird, oder ob die Patienten zunächst zunehmen und daraus die gestörte Leptinwirkung resultiert ?
Seufert: Es handelt sich wohl um einen vererbten Defekt. Tierexperimentelle Untersuchungen zeigten: Zuerst ist der Leptindefekt da und dann entwickeln sich Hyperinsulinämie und Adipositas.
PZ: Wenn man von diesen Ergebnissen ausgeht, wäre der übergewichtige Mensch dann nicht weit weniger selbst für sein Übergewicht verantwortlich, als man bislang dachte?
Seufert: Diese Aussage ist sicherlich richtig. Dennoch gibt es eine große Zahl von übergewichtigen Menschen, die niemals einen Diabetes mellitus entwickeln. Man muss also in jedem Fall davon ausgehen, dass noch eine Vielzahl von anderen Faktoren zur Entwicklung der Erkrankung beitragen. Dennoch ist der Übergewichtige nicht völlig aus der Verantwortung genommen. Nach neueren Ergebnissen reduziert eine Gewichtsreduktion die Leptinresistenz im Gehirn. Möglicherweise erwerben bestimmte Patienten die fehlende Leptinkontrolle, weil Übergewicht und eine genetischen Veranlagung zusammenkommen.
PZ: Wie lange wird man warten müssen, bis Arzneimittel auf den Markt kommen, die die Leptinwirkung gezielt beeinflussen können?
Seufert: Zunächst muss man den molekularen Defekt identifizieren, um spezifische Medikamente zu entwickeln. Eigentlich wirkt jedes Antidiabetikum auch auf den Leptin-Regulationskreis. Das gilt natürlich auch für exogen zugeführtes Insulin. Ein relativ neuer Trend sind die Insulinsensitizer, wie Proglitazon oder Rosigliton, die die Insulinsensitivität im Fettgewebe erhöhen und sekundär auch zur Lipogenese führen. Wahrscheinlich steigen dann ebenfalls die Leptinspiegel. Ob das Ganze einen langfristig einen positiven oder negativen Einfluss auf den Leptin-Regulationskreis hat, ist noch nicht geklärt. Allerdings gibt es neuere experimentelle Hinweise, dass die Thiazolodindione auch direkt an der Insulin produzierenden b-Zelle wirken und die Funktion dieser Zellen verbessern können. Nach meiner Einschätzung bleibt jedoch abzuwarten, ob langfristig hierdurch ein positiver Einfluss auf das endokrine Pankreas erzielt werden kann, also die Insulinsekretion besser reguliert wird.
Für die Entwicklung neuer Substanzen, die speziell die Leptinwirkung am Pankreas wiederherstellen, lässt sich noch kein genauer Zeitrahmen setzen. Das Ganze wird nach wie vor stark beforscht. Vor allem in den USA, weil dort die Bereitschaft zur medikamentösen Intervention bei Übergewicht wesentlich höher ist als bei uns in Deutschland.
Leptin als Medikament hat in höherer Dosierung deutliche Nebenwirkungen. Es gibt jedoch synthetische und halbsynthetische Substanzen, die die Leptinwirkung imitieren und ebenfalls am Leptinrezeptor wirken.
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