Eine Stunde lang blind |
26.05.2003 00:00 Uhr |
In der Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ tauchen Sehende in die Welt von Blinden ein. Blinde Guides leiten die Besucher durch abgedunkelte Räume, die sich als Straßenkreuzung, Obstladen oder Bar entpuppen. In völliger Schwärze, ohne Farben oder Formen zu erkennen, tasten und hören sich die Sehenden durch den Parcours.
„Uhren mit Leuchtzifferblatt bitte abnehmen und Mobiltelefone ausschalten!“ Keinen Schimmer Licht dürfen die Besucher in die Ausstellung tragen. Einzig erlaubtes Hilfsmittel ist ein Blindenstock, den jeder ausgehändigt bekommt. In einem leicht abgedunkelten Vorraum soll sich die Besuchergruppe langsam an die Dunkelheit gewöhnen und sich mit dem Stock vertraut machen. „Beschreiben Sie mit dem Stock immer einen Halbkreis vor ihren Füßen“, erklärt eine junge Frau den richtigen Umgang. „Außerdem brauchen Sie sich nicht jedes Mal zu entschuldigen, wenn Sie Ihren Vordermann anrempeln. Sonst wird es anstrengend“, meint sie. Wir sieben Frauen lachen, trotzdem spüre ich mein Herz vor Aufregung pochen. Jetzt soll sich die Gruppe auf den Weg in die völlige Dunkelheit machen. Wir gehen einen Gang entlang, in dem zunächst ein Geländer den Weg weist. Die Dunkelheit verschluckt uns. Am Ende des Ganges wartet Gabriele auf uns. Sie ist stark sehbehindert und wird in der nächsten Stunde unser Licht in der Dunkelheit sein.
Nur keine Angst
„Gehen Sie ganz normal, haben Sie keine Angst“, begrüßt sie uns. Ihre Stimme ist sehr sympathisch mit einem leichten Wiener Dialekt. „Es hat sich hier drin noch nie jemand verletzt.“ In ihrer Begleitung ist Felix. „Der Felix möchte sich ein bisserl mit uns umschauen, weil er auch bald Führungen macht.“
Ein „bisserl umschauen“, wie witzig. Die Finsternis macht mich fertig, meine Hände sind feucht. Ob ich die Schwärze aushalten kann? Auf der Suche nach Licht drehe ich meinen Kopf in alle Richtungen. Nichts. Welch ein Trost, das Parfüm der Vorderfrau zu riechen und von hinten angerempelt zu werden.
Das Konzept von „Dialog im Dunkeln“ wurde 1988 von Dr. Andreas Heinecke während seiner Tätigkeit für die Stiftung Blindenanstalt Frankfurt entwickelt. In der Ausstellung geht es nicht darum, Sehenden vorzuführen, wie es ist, blind zu sein. Der Besucher soll eine neue Erlebniswelt erfahren, im Alltag seinen Gehör-, Geruchs- und Geschmackssinn entdecken. Alltägliche Situationen wie ein Spaziergang durch einen erholsamen Park oder die laute Stadt werden in lichtlosen Räumen auf völlig neue Weise erfahrbar. Einmalig das Gefühl, sich einem völlig wildfremden, noch dazu blinden Menschen anzuvertrauen. Mit großem Erfolg wanderte die Ausstellung in den letzten Jahren durch mehr als 100 Städte in 14 Ländern.
Entdecken statt sehen
Jetzt laufen wir los. Mit dem Geländer ist nun Schluss. Einzige Lotsen sind die Kieselsteinchen unter den Füßen, die bei jedem Schritt knirschen und Gabrieles Stimme: „In diese Richtung bitte, meine Damen.“ Wir laufen durch einen Park. Links und rechts ertastet mein Stock Rasen, dann eine Parkbank. Plötzlich höre ich Wasser plätschern und die anderen über eine Holzbrücke gehen. Wo ist diese Brücke? Ich will hier nicht alleine zurückbleiben. Es ist alles so anstrengend. Ich komme mir hilflos vor, und ohnmächtige Wut steigt in mir auf. Da packt mich jemand am Arm. Gabriele sammelt die letzten ein. „Über die Brücke bitte, wir kommen jetzt in einen Wald.“
„Tock, tock, tock“, ich taste mich voran. Im Wald zwitschern die Vögel, ab und zu streift ein Ast mein Gesicht. Es riecht gut nach Holz. Meine Schritte werden sicherer und schneller. „Betasten Sie die Rinde der Bäume, das ist ein schönes Gefühl“, macht uns Gabriele aufmerksam. Ich habe die Gruppe eingeholt und fühle mich richtig geborgen unter den Menschen. Gemeinsam sollen wir nun eine Bootspartie machen. Das Einsteigen ist sehr anstrengend, denn ich bin verkrampft und habe Angst ins Wasser zu fallen. Der Stress lässt erst nach, als ich auf der Bank im Boot sitze. Der Motor springt an, das Boot schwankt und der Wind fährt uns durch die Haare.
Mit den Naturerlebnissen ist dann Schluss, denn die Zivilisation wartet auf uns. Laute Straßengeräusche schlagen der Gruppe entgegen: Ein Presslufthammer dröhnt und ein Auto heult auf. Vor lauter Lärm „sehe“ ich nichts mehr. Mein Puls ist auf 180. Wie soll ich in diesem Chaos vorbei an der Baustelle über die Kreuzung finden? Irgendwie gelingt es doch, obwohl ich beinahe über ein Fahrrad gefallen wäre. Im Obstladen warten schon die anderen. Schön, sie zu „sehen“. Hier können wir an Zitronen, Lauch und Kräutersäckchen schnuppern.
„Alleine in einem großen Supermarkt einkaufen ist für einen Blinden unmöglich“, erzählt Gabriele später als wir in der Unsicht-BAR sitzen. „Da braucht es schon eine Begleitung“, meint sie. Früher sei sie sogar Auto gefahren, aber die Netzhautablösung mache es inzwischen unmöglich. „Geduld“ sei das Zauberwort, wenn man blind ist: Geduld jemand zu finden, der mit einem einkaufen geht, geduldig warten bis Freunde Zeit haben, sich auf das Tandemfahrrad zu schwingen. Trotzdem kommt sie sehr gut alleine zurecht und reist zum Beispiel gerne.
Nur eine Stunde hat der Ausflug in die Dunkelheit gedauert. Den meisten von uns kam es wesentlich kürzer vor. Die völlige Konzentration ließ die Zeit wie im Flug vergehen. Nach den Erfahrungen dieser Stunde muss ich Menschen wie Gabriele bewundern. Wie sie es schaffen, sich in einer absolut visuell ausgerichteten Gesellschaft anzupassen. Ich habe gelernt, dass an die Stelle des Nicht-Sehens ein anderes Sehen tritt. Trotzdem bin ich glücklich, als ich draußen die Sonne scheinen sehe und sicheren Schrittes meinen Weg über den Parkplatz finde.
Dialog on Tour
Weitere Informationen unter www.dialog-im-dunkeln.de.
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