Editorial
Jeder gegen
jeden
Nachdem man eine Weile den
Eindruck hatte, daß in der gesundheitspolitischen
Diskussion mit Vernunft und Augenmaß gehandelt wird, ist
das Bild in den letzten Tagen eher von Aktionismus
geprägt. Da tritt die stillgelegte Berliner Positivliste
in norddeutschem Gewand wieder auf die Bühne. Als
"Kieler Liste notwendiger Arzneimittel"
enthält sie angeblich alles, was die Allgemeinmediziner
oder besser ihre Patienten brauchen. Da versucht die
Kassenärztliche Vereinigung Südbaden, mit
praxisindividuellen Arzneimittellisten das
Verordnungsverhalten ihrer Mitglieder in den Griff zu
bekommen und ihnen die Angst vor drohenden Regressen zu
nehmen.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) empfiehlt
ihren Vertragsärzten, nur noch solche Arzneimittel auf
Kassenrezept zu verordnen, deren Verweigerung ethisch
unvertretbar wäre. Soll heißen: Ein an Bronchitis
erkrankter Mensch kann ein schleimlösendes Medikament
nur noch auf Privatrezept bekommen, da die gleiche
Wirkung nach Ansicht der Krankenkassen auch mit der
Aufnahme von drei Litern Flüssigkeit erreicht werden
könne.
Auf der anderen Seite der Bühne erhöhen die
Krankenkassen ihre Beiträge, damit sie die zum 1. Januar
1997 gesetzlich verordnete Absenkung der Beiträge
finanziell überleben. Gleichzeitig hört man von Plänen
der Kassen, die Festbeträge senken zu wollen, um sich
auf diese Weise Luft zu verschaffen.
SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler warnt unterdessen die
Kassen, ihre reaktionäre Politik der
Beitragssatzerhöhung in die Tat umzusetzen. Umgekehrt
warnen die Krankenkassen ihre Vertragsärzte, wegen der
Überschreitung des Arzneimittelbudgets für den Rest des
Jahres notwendige Medikamente nur noch auf Privatrezept
zu verordnen. Ein solches Vorgehen sei gesetzlich,
vertraglich und berufsrechtlich unzulässig.
An gegenseitigen Vorwürfen mangelt es nicht: Die KBV
wirft den Krankenkassen vor, ihrer gesetzlichen Pflicht
nicht nachzukommen und über den Umfang der Verordnungen
zu informieren, so daß die Ärzte ihr Verordnungsvolumen
steuern könnten. Und die Kassen sind immer noch der
Meinung, daß die Rechenzentren ihnen notwendiges
Datenmaterial schulden.
Jeder gegen jeden und alles zu Lasten des Patienten. Der
kommt schließlich in die Apotheke und sucht hier nach
Erklärungen von Tatbeständen, die die Apotheker nicht
zu verantworten haben.
Gisela Stieve
Stellvertretende Chefredakteurin
© 1996 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de