Editorial
Neue
Beschäftigungsfelder schaffen
von Dr. Günther Theurer,
Präsident des Apothekerverbandes Baden-Württemberg
Noch drei Jahre trennen uns von jenem Jahr 2000, das
nicht nur für eine Jahrtausend-, sondern für eine
Zeitenwende steht. Das prägende Thema des ausgehenden
Jahrtausends sind die Umwälzungen in den sozialen
Bereichen.
Die Arbeitslosigkeit ist das drängendste Problem unserer
Gesellschaft. Weltweit sind heute fast eine Milliarde
Menschen ohne Job. Damit ist beinahe ein Drittel der
arbeitsfähigen Weltbevölkerung betroffen. Auch der
neuerliche Aufschwung der Weltwirtschaft wird keine neuen
Arbeitsplätze bringen. Die dritte industrielle
Revolution hat längst eingesetzt. Millionen von
Arbeitnehmern werden durch Maschinen und Computer
ersetzt, die effizienter und profitabler arbeiten, die
weder krank sind, Kuren bekommen, noch Urlaub haben.
Zur Zeit hat der deutsche Arbeitnehmer im Durchschnitt 28
Tage Urlaub, ist 21 Tage krank, hat zusätzlich an 10
Feiertagen frei und kann noch alle 4 Jahre eine Kur
beantragen. Zum Vergleich: Der amerikanische Arbeitnehmer
hat 14 Tage Urlaub, ist 5 Tage krank und kennt keine
Kuren.
Tony Blair, Chef der oppositionellen Labourparty in
Großbritannien, hat auf dem letzten Parteikongreß
gesagt: "Man muß entscheiden, ob man den
Sozialstaat reformieren oder den Niedergang der
Volkswirtschaft verwalten will." Er sieht den Tod
der Wirtschaft voraus, wenn nicht eingegriffen wird.
Unserer Gesellschaft droht eine Spaltung in arm und
reich, wobei ich vermute, daß wir in Deutschland mit 38
Millionen Arbeitnehmern in wenigen Jahren, wenn sich
nichts ändert, 20 Prozent Arbeitslose haben werden, das
heißt 7 bis 8 Millionen. Denen werden auf der anderen
Seite 20 Prozent gut bis sehr gut Verdienende
gegenüberstehen, die in der Lage sind, Steuern zu zahlen
und damit den Staat zu finanzieren.
Die steigende Arbeitslosigkeit und die zunehmende
Polarisierung von arm und reich bereiten den Boden für
soziale Unruhen. Wenn es uns nicht gelingt, die
Fähigkeiten und Energien jener Hunderter Millionen
arbeitsloser Frauen und Männer in die richtigen Bahnen
zu lenken und ihnen eine sinnvolle Aufgabe zu geben, dann
werden Verelendung und Gesetzlosigkeit unsere
Gesellschaften erfassen, sie werden zerfallen.
Jeremy Rifkin, US-amerikanischer Wirtschaftskritiker,
appelliert eindringlich, daß wir uns von der Fixierung
auf Markt und Staat lösen und statt dessen einen dritten
Sektor ausbauen: die gemeinnützigen Aufgaben.
Der marktwirtschaftliche und der staatliche Sektor werden
im nächsten Jahrhundert im Alltagsleben der Menschen
eine immer geringere Rolle spielen. Das daraus
entstehende Machtvakuum wird entweder angefüllt von
einer Subkultur der Gesetzlosigkeit oder von einem
stärkeren Engagement im dritten Sektor. Das heißt,
brachliegende Arbeitskraft wird in sinnvoller Weise für
gemeinnützige Aufgaben eingesetzt.
Auch nach der dritten industriellen Revolution werden die
meisten Europäer einer Erwerbsarbeit nachgehen müssen,
um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Was die wachsende
Zahl von Menschen anbelangt, die in der Wirtschaft keinen
Platz mehr finden, so steht der Staat vor der Wahl,
entweder mehr Geld für Polizisten und Gefängnisse
auszugeben oder Geld in gemeinnützige Aufgaben zu
investieren, um dort für Beschäftigung zu sorgen.
Die Globalisierung der Wirtschaft und der Rückzug des
Staates werden die Menschen dazu bringen, sich in
Selbsthilfeorganisationen zusammenzuschließen. Um den
Übergang in das post-marktwirtschaftliche Zeitalter zu
bewältigen, wird es politischer Bewegungen und
Zusammenschlüsse bedürfen. Diese müssen darauf
drängen, daß ein möglichst großer Anteil des
Produktivitätszuwachses vom marktwirtschaftlichen Sektor
in den dritten Sektor übertragen wird, um auf diese
Weise soziale Gemeinschaften und lokale Infrastrukturen
zu stärken.
Nur wenn dies gelingt, werden die Menschen in Europa und
überall in der Welt mit der Globalisierung der Märkte
und mit den Massenentlassungen fertig werden können, die
ihnen die Lebensgrundlage zu rauben drohen.
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