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Pestizidmix auf Obst und Gemüse

14.11.2005  16:23 Uhr

Mehrfachrückstände

Pestizidmix auf Obst und Gemüse

von Patrick Hollstein, Berlin

 

Immer wieder sorgen Pestizide in Lebensmitteln für Schlagzeilen. Über die tatsächlichen Gefahren für die Gesundheit der Konsumenten ist nur wenig bekannt. Vor allem die so genannten Mehrfachrückstände, bei denen mehrere Schadstoffe zusammenkommen, stehen bei Umwelt- und Verbraucherschützern in der Kritik.

 

Kaum ein anderes Thema wird seit Jahren derart kontrovers diskutiert wie Chemikalienrückstände in Lebensmitteln. Seit bekannt ist, dass beispielsweise der Plastik-Weichmacher Bisphenol A estrogenartig wirkt, stehen auch niedrigste Dosierungen chemischer Zusatzstoffe in der Kritik von Medizinern und Verbraucherschützern. Weltweit werden mehr als 800 verschiedene Pestizide eingesetzt, erklärten Experten auf dem Forum »Mehrfachrückstände von Pflanzenschutzmitteln in Lebensmitteln« des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR). Laut Carina Weber vom Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN) kennt insbesondere in tropischen Ländern die Kreativität krimineller Händler keine Grenzen: Selbst geöffnete Batterien wurden in Lagerhallen schon eingesetzt, um Schädlinge abzuwehren.

 

Die zuständigen Behörden hier zu Lande versuchen, ein gesundheitliches Risiko für Konsumenten legal behandelter Obst- und Gemüsearten auszuschließen, indem sie Obergrenzen für Rückstandsmengen in Lebensmitteln definieren. Pestizide werden nur dann zugelassen, wenn sowohl akute Toxizität (so genannter AfRD-Wert; akute Referenzdosis) als auch Langzeitaufnahme (ADI-Wert; duldbare tägliche Aufnahmemenge) unter den vorgeschriebenen Höchstwerten liegen. Zwischen den in der Landwirtschaft eingesetzten Mengen und den für den Menschen toxischen Schwellendosen liegen normalerweise Sicherheitsspannen im dreistelligen Bereich.

 

Stichprobenartig überprüfen die Labors der Lebensmittelüberwachungsbehörden der Länder, ob die Vorschriften von den Produzenten tatsächlich eingehalten werden. Doch nicht jede Tomate oder jeder Apfel kann laut Weber auf Rückstände getestet werden. Im Rahmen eines Monitoring untersuchen die Behörden daher jedes Jahr systematisch bestimmte Produktarten. Zudem gehen die Ämter Hinweisen auf Bestimmungsverletzungen nach.

 

Im Jahr 2003 wertete das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit 12.000 Untersuchungen der Länderbehörden aus und leitete die Ergebnisse an die EU weiter. Mehr als die Hälfte der Proben enthielten danach einen oder mehrere Pflanzenschutzmittelrückstände. Überschritten wurden die zulässigen Höchstwerte in 8 Prozent der Fälle. Das Chemische und Veterinäruntersuchungsamt Stuttgart kommt sogar zu noch höheren Zahlen: Bei 1500 im vergangenen Jahr durchgeführten Analysen wiesen 92 Prozent der Obstproben und 78 Prozent der Gemüseproben Rückstände auf. In 12 beziehungsweise 22 Prozent waren die Konzentrationen höher als erlaubt.

 

Mehrfachrückstände umstritten

 

Bei den ersten Untersuchungen vor zehn Jahren waren noch überwiegend Grenzwertüberschreitungen für einzelne Pflanzenschutzmittel zu verzeichnen. Nun versuchen Landwirte durch den Einsatz von Pestizid-Cocktails, verschiedene Schädlingsspezies zu erfassen und Resistenzen vorzubeugen, ohne die vorgeschriebenen Höchstmengen zu überschreiten. Tankmischungen sind seit Jahren im Handel erhältlich.

 

Daher ist in Lebensmittellabors der Nachweis mehrerer Pestizide in einer Probe mittlerweile die Regel. Je nach Herkunft und Anbaukultur variiert die Rückstandsvielfalt: Bei 2005 durch das CVUA analysierten Paprikaproben aus Spanien wurden im Durchschnitt je 7,7 Wirkstoffe festgestellt. Bei den holländischen Schoten waren jeweils nur 0,7 Wirkstoffe nachweisbar. Zu den Lebensmitteln mit den meisten so genannten Mehrfachrückständen zählen Zitrusfrüchte, Trauben, Erdbeeren, Johannisbeeren, Paprika, Salat sowie Äpfel und Birnen.

 

»Wir haben zwar Grenzwertüberschreitungen in den Griff bekommen. Aber wir haben den Teufel mit dem Belzebub ausgetrieben«, warnt Weber. Der PAN-Aktivistin zufolge lässt sich das Risiko aus dem Zusammenspiel mehrerer Wirkstoffe derzeit überhaupt nicht wissenschaftlich abschätzen. Ob es bei einer Pestizid-Häufung eine zusätzliche summarische Belastung gibt und wenn ja, in welchem Umfang, vermag derzeit niemand zu sagen.

 

In Amerika, Großbritannien und den Niederlanden setzt sich jetzt ein Trend durch, Wirkstoffe mit den gleichen toxikologischen Mechanismen additiv zu bewerten. So werden verschiedene Organophosphate und Carbamate, die als Cholinesterase-Hemmer wirken, gemeinsam erfasst und Gruppenhöchstmengen unterworfen. Unterschiedliche Wirkstärken werden dabei durch so genannte toxikologische Potenzen relativ zu einer Bezugssubstanz berücksichtigt. Auch der Deutsche Bundestag sowie gemeinsame Arbeitsgruppen von Bund und Ländern machten sich bereits für eine Summenhöchstmengenregelung stark.

 

In der Summe gefährlicher

 

Verbraucher- und Umweltschutzorganisationen wie dem PAN geht dieser Schritt nicht weit genug. Auch Gemische von Stoffen mit unterschiedlichen Wirkmechanismen, die auch dem neuen Ansatz zufolge weiterhin getrennt bewertet werden, belasten Konsumenten und Umwelt laut Weber stärker als die Einzelstoffe. Wissenschaftler weisen die Spekulationen bislang als unbegründet zurück, konstatieren jedoch weiteren Forschungsbedarf. Neben mehr Informationen zu eventuellen toxikokinetischen oder -dynamischen Wechselwirkungen der verschiedenen Wirkstoffe brauchen die Forscher vor allem mehr Daten zu den Verzehrgewohnheiten der Konsumenten. Planlose Tierversuche zu den möglichen Kombinationen lehnen die meisten Wissenschaftler jedoch ab. Anlässlich eines internationalen Expertenforums kündigte das BfR jetzt weitere systematische Forschungsanstrengungen an.

 

Auf der sicheren Seite dürften auch weiterhin Verbraucher stehen, die auf Lebensmittel aus biologischem Anbau setzen: Gemäß EU-Kommission wiesen in einer Untersuchung von 900 Bio-Proben nur 2,3 Prozent eine Mehrfachbelastung auf. Bei den Proben aus konventionellem Anbau lag der Wert im internationalen Durchschnitt bei 20 Prozent. In Deutschland und Holland wies sogar jede dritte Probe eine Mehrfachbelastung auf. Über die Höhe der Belastungen wurde nichts bekannt gemacht. Laut Weber lassen sich schwarze Schafe in der Biobranche jedoch eindeutig identifizieren, da sich Rückstandsmengen deutlich unterscheiden.

 

Neue Kennzeichnungspflicht
Ab Ende November gilt europaweit eine neue Kennzeichnungsvorschrift für Lebensmittel. Zutatenlisten verpackter und verarbeiteter Produkte müssen künftig so detailliert sein, dass Allergiker für sie gefährliche Substanzen erkennen können. Durch die Neuregelung werden die zwölf häufigsten Allergene erfasst. Laut Verbraucherzentrale Berlin wird damit für 90 Prozent der Allergiker die Orientierung beim Einkauf erleichtert. Für unverpackte Lebensmittel sowie vor dem 25. November produzierte Waren gilt die Kennzeichnungspflicht nicht. (dpa)

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