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Rückenschmerzen haben in den meisten Fällen keine spezifische Ursache. Körperliche Aktivität, gegebenenfalls auch Physiotherapie, sind die besten Maßnahmen. / Foto: Adobe Stock/RioPatuca Images
Probleme mit dem Rücken kennt fast jeder. In einer aktuellen Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) gaben knapp zwei Drittel aller Befragten an, im letzten Jahr an Rückenschmerzen gelitten zu haben – im Schnitt acht Tage pro Monat. Knapp 40 Millionen Arztbesuche verzeichnen deutsche Arztpraxen deshalb jährlich. Rückenschmerzen sind nach Atemwegsinfektionen die zweithäufigste Einzeldiagnose für Krankschreibungen – und gleichzeitig die Ursache für die längsten Arbeitsunfähigkeitszeiten.
Auch bei Kindern und Jugendlichen ist das Problem bekannt. Von den 14- bis 17-Jährigen berichtet bereits jeder Dritte von wiederkehrenden Rückenschmerzen in den letzten drei Monaten; bei den 11- bis 13-Jährigen ist es jeder Siebte. Frauen und Mädchen sind generell häufiger betroffen als Männer und Jungen. In allen Altersgruppen stiegen die Prävalenzen in den letzten Jahren an.
Bei den allermeisten Patienten lässt sich keine konkrete Ursache ermitteln, die die Beschwerden überzeugend erklären kann und eine gezielte Behandlung erfordert. Der Arzt spricht dann von unspezifischen Rückenschmerzen. »Nur bei weit unter 10 Prozent der Patienten finden wir eine spezifische Ursache, zum Beispiel einen großen Bandscheibenvorfall, eine Wirbelkörperfraktur oder Tumormetastasen«, erklärt Professor Dr. Ulrike Bingel im Gespräch mit der PZ. Sie ist Fachärztin für Neurologie und Leiterin des Rückenschmerz-Zentrums am Universitätsklinikum Essen. »Sehr häufig sind muskuläre Dysbalancen und Fehlhaltungen schuld.« Die können zum Beispiel durch einseitige Bewegungsabläufe, schwere körperliche Arbeit, Bewegungsmangel und Übergewicht entstehen.
Ob eine gefährliche, unmittelbar behandlungsbedürftige Ursache für die Rückenschmerzen vorliegt, lasse sich in der Regel bereits beim ersten Arztbesuch durch Anamnese und eine körperliche Untersuchung mit hoher Treffsicherheit feststellen. Ein Anhaltspunkt ist beispielsweise ein Unfall oder ein Sturz aus großer Höhe. Bei älteren Patienten oder Menschen mit hohem Osteoporoserisiko kann auch ein Bagatelltrauma für eine Fraktur ausreichen. Ebenso können Erkrankungen anderer Organe in den Rücken ausstrahlen (Kasten).
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Als Hauptursachen spezifischer Rückenschmerzen bei Erwachsenen gelten:
Weitere Ursachen
Auch Erkrankungen anderer Organe können Rückenschmerzen verursachen:
Typische Warnhinweise (»red flags«) für einen Bandscheibenvorfall sind ausstrahlende Schmerzen in ein oder beide Beine, die mit Gefühlsstörungen wie Taubheit, Kribbeln oder Brennen einhergehen. Untersuchungen der Reflexe und der Muskelkraft können Hinweise auf den Ort der Nervenschädigung geben. Kürzlich aufgetretenes Fieber, Schüttelfrost, Drogenkonsum oder eine Infiltrationsbehandlung an der Wirbelsäule lassen an ein akutes Infektionsgeschehen denken. Auf einen Tumor mit Knochenmetastasen können Druckschmerzen der Wirbel, starke nächtliche Schmerzen, besonders in Rückenlage, und allgemeine Symptome wie Gewichtsverlust und Schwäche hindeuten.
Wenn Kinder unter zehn Jahren über Rückenschmerzen klagen, gilt dies als Warnhinweis für eine spezifische Krankheitsursache. Eine ärztliche Abklärung ist dringend nötig. / Foto: Adobe Stock/New Africa
Besondere Bedeutung kommt den »red flags« bei Kindern und Jugendlichen zu. Die Häufigkeit nicht spezifischer Rückenschmerzen nimmt erst mit Beginn der Pubertät zu. Klagen Kinder unter zehn Jahren über Rückenschmerzen, ist das laut der 2021 herausgekommenen S3-Leitlinie ein unabhängiger Warnhinweis für eine spezifische Krankheitsursache.
Auch bei älteren Kindern gelten ein Trauma mit oder ohne Atemarrest (Atempause), der Beginn der Rückenschmerzen im Zusammenhang mit sportlicher Aktivität, eine Glucocorticoid-Therapie in der Vorgeschichte oder neurologische Symptome als Warnzeichen für eine spezifische Pathologie. Bei entsprechenden Hinweisen in der Anamnese empfiehlt die Leitlinie eine gezielte bildgebende Untersuchung. Eine hohe differenzialdiagnostische Sensitivität bei Kindern und Jugendlichen mit Rückenschmerzen bescheinigen Studien insbesondere der Magnetresonanztomografie (MRT).
Restriktiver betrachtet dagegen die Nationale Versorgungsleitlinie »Nicht-spezifischer Kreuzschmerz« den Einsatz der bildgebenden Diagnostik bei Erwachsenen. Sie rät ausdrücklich davon ab, sofern sich durch Anamnese und körperliche Untersuchung keine relevanten Hinweise auf gefährliche Verläufe oder andere ernst zu nehmende Pathologien ergeben. Die NVL von 2017 ist zwar formal nicht mehr gültig, der aktuelle Forschungsstand lässt laut Bingel aber keine wesentlichen Änderungen bei der Neuauflage erwarten.
Expertenkonsens und Versorgungsrealität klaffen hier weit auseinander, klagt die Neurologin: »In Deutschland wird viel zu viel Bildgebung gemacht.«
Röntgenuntersuchungen und MRT ohne klare Indikation verursachen nicht nur unnötige Kosten, sondern tragen durch einen Nocebo-Effekt nachweislich zu einem schlechteren Krankheitsverlauf bei. »Bei 80 Prozent aller Patienten über 40 Jahren findet man Bandscheibenvorwölbungen oder -vorfälle oder andere Auffälligkeiten, die aber meist überhaupt nicht in Zusammenhang mit den Symptomen stehen.« Die Befunde lösten bei vielen Patienten Angst und Verunsicherung aus, obwohl die dokumentierten Veränderungen häufig altersgerecht und kein Anlass zur Besorgnis sind.
Früher gingen Wissenschaftler davon aus, dass akute unspezifische Kreuzschmerzen selbstbegrenzend sind und 90 Prozent der Betroffenen innerhalb von sechs Wochen genesen. Während der typische Hexenschuss (Lumbago) in der Regel tatsächlich nach ein paar Tagen wieder verschwunden ist, scheint das nicht generell für Rückenschmerzen zu gelten. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2013 belegt, dass nur ein Drittel der Patienten drei Monate nach einer akuten Schmerzepisode wieder schmerzfrei ist. Der überwiegende Rest klagt selbst nach einem Jahr noch über Beschwerden.
Alles, was länger als zwölf Wochen anhält, bezeichnen Mediziner als chronischen Rückenschmerz. Bei neu auftretenden Schmerzen von bis zu sechs Wochen Dauer ist von akuten Beschwerden die Rede. Subakut sind definitionsgemäß Schmerzen, die seit mehr als sechs, aber weniger als zwölf Wochen bestehen.
Experten sind sich heute weitgehend einig, dass unspezifische Rückenschmerzen multifaktoriell bedingt sind (Grafik). Nach dem biopsychosozialen Modell tragen biologische Faktoren wie eine schwache Rumpfmuskulatur ebenso dazu bei wie psychische und soziale Einflussgrößen. Geringe Lebenszufriedenheit, niedriges Selbstwertgefühl, Ängstlichkeit und Depressivität fördern unspezifische Kreuzschmerzen sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen. Bei länger anhaltenden Schmerzen bildet sich zudem durch Veränderungen der Signalverarbeitung im Nervensystem ein Schmerzgedächtnis, das oft eine größere Rolle spielt als der eigentliche Schmerzauslöser im Gewebe.
Körperliche, seelische und soziale Faktoren beeinflussen den Schmerz / Foto: PZ/Stephan Spitzer
Schmerzmittel können den Betroffenen besonders in der Akutphase helfen, ihre üblichen Aktivitäten möglichst schnell wieder aufzunehmen. Fast jeder zweite Rückenschmerzpatient erhält vom Arzt eine entsprechende Verordnung. In der Selbstmedikation spielen Analgetika ebenfalls eine große Rolle. »Wichtiger als die Substanz ist dabei der Grundsatz: so kurz wie möglich und so niedrig dosiert wie möglich«, betont Schmerzspezialistin Bingel. Das kommt auch in der NVL zum Ausdruck.
Sowohl im Rx- als auch im OTC-Bereich stellen NSAR (nicht steroidale Antiphlogistika) die bedeutendste Substanzgruppe dar. »Als Akutmedikamente sind sie wegen der antiinflammatorischen Komponente sehr hilfreich«, meint Bingel. »Nach ein paar Wochen richten sie aber häufig mehr Schaden als Nutzen an.«
Zugelassen für leichte bis mäßig starke (Rücken-)Schmerzen sind in Deutschland Ibuprofen, Diclofenac und Naproxen in den rezeptfrei erhältlichen Dosierungen. Die NVL-Autoren empfehlen, eine Tagesdosis von 1,2 g Ibuprofen, 100 mg Diclofenac oder 750 mg Naproxen nicht zu überschreiten. Zu beachten ist das Risiko gastrointestinaler und kardiovaskulärer Nebenwirkungen sowie das Interaktionspotenzial beispielsweise mit Paracetamol und Acetylsalicylsäure. Bei Bedarf kann ein prophylaktisch eingenommener Protonenpumpenhemmer, zum Beispiel Pantoprazol, das Risiko von Magenbeschwerden und oberen gastrointestinalen Blutungen senken.
Wenn NSAR kontraindiziert sind oder nicht vertragen werden, kann der Arzt im Off-Label-Use COX-2-Hemmer (Coxibe) verschreiben. Auch hier empfiehlt die Leitlinie die niedrigst mögliche Dosierung für die kürzest mögliche Zeit. Gleiches gilt für Metamizol, das für Patienten mit nephrologischen, gastrointestinalen oder kardialen Risikofaktoren ebenfalls eine Alternative zu NSAR darstellt. Hier sollte das Apothekenteam an eine mögliche Interaktion mit Acetylsalicylsäure denken, die zu einer Abnahme der Plättchenaggregation führen kann. Patienten, die ASS zur Kardioprotektion einnehmen, sollten sicherheitshalber einen zeitlichen Abstand von drei Stunden einhalten.
Explizit abgeraten wird in der NVL von Paracetamol, da aktuelle Studien im Vergleich zu Placebo keine bessere Wirksamkeit bei unspezifischen Rückenschmerzen fanden.
Wenn NSAR und andere schmerzlindernde Therapien keine ausreichende Wirkung zeigen, kommen für eine Behandlungsdauer von bis zu drei Monaten auch Opioid-Analgetika infrage. Ihre Effektstärke wird nach Bingels Erfahrung allerdings oft überschätzt. Für die Langzeitbehandlung bei chronischen Kreuzschmerzen liegen kaum belastbare Studiendaten vor; bei etwa einem Viertel der Patienten scheint die Behandlung aber auch längerfristig wirksam zu sein. Bevorzugt werden sollten orale Präparate mit retardierter Galenik. Transdermale Systeme sollten nicht eingesetzt werden.
In der Selbstmedikation sehr beliebt sind topisch anzuwendende Präparate wie Wärmepflaster und -salben oder Schmerzcremes. »Viele Patienten machen damit gute Erfahrungen«, weiß Bingel. Ein Cochrane-Review zeigte 2017 gute Evidenz für eine analgetische Wirkung insbesondere von Diclofenac- und Ketoprofen-Gel bei muskuloskelettalen Schmerzen. Ob der Wirkstoff in ausreichender Menge an den Schmerzort gelangt, hängt unter anderem von der individuellen Hautbeschaffenheit sowie dem Körpergewicht (Übergewicht) der Patienten ab. Studien zur Anwendung speziell bei Kreuzschmerzen liegen bislang nicht vor.
Wärmepflaster und andere Topika sind bei Patienten sehr beliebt. / Foto: Adobe Stock/Uwe Grötzner
Für Capsaicin-Pflaster und -Salben ist eine signifikante schmerzlindernde Wirkung bei akuten und chronischen unspezifischen Rückenschmerzen belegt. Unterstützend kann das Apothekenteam bei der Abgabe von OTC-Präparaten raten, sich damit nicht ins Bett zu legen, sondern körperlich aktiv zu bleiben oder zu werden.
Orale Weidenrindenzubereitungen (Salix alba) sind von der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA aufgrund von Untersuchungen zu Wirksamkeit und Unbedenklichkeit zur kurzzeitigen Linderung von Kreuzschmerzen zugelassen (Well-established-use-Status). Studien bescheinigen dem Phytotherapeutikum (240 mg) eine signifikant bessere Schmerzreduktion als Placebo und eine vergleichbare Wirkung mit Rofecoxib. Wenig Evidenz für die Effektivität und keine EMA-Registrierung liegen dagegen für Teufelskralle (Harpagophytum procumbens) und für Beinwell (Symphytum officinale) bei Rückenschmerzen vor.
Vom Einsatz von Muskelrelaxanzien (Myotonolytika) raten sowohl die NVL als auch Schmerzexperten bei unspezifischen Rückenschmerzen heute generell ab. »Sie schaden mehr als sie nutzen«, fasst Bingel zusammen.
Abgesehen von möglichen zentralnervösen und gastrointestinalen Nebenwirkungen sowie allergischen Reaktionen spreche auch der tonussenkende Effekt gegen diese Substanzklasse. »Wir wollen die Muskulatur ja aktivieren und nicht entspannen.« Trotzdem werde insbesondere das zentral wirksame Muskelrelaxans Methocarbamol nach wie vor in vielen hausärztlichen und orthopädischen Praxen verschrieben. Zugelassen für die Schmerztherapie sind in Deutschland darüber hinaus auch Orphenadrin, Tizanidin und Pridinol.
Ebenfalls nicht empfohlen, aber trotzdem häufig eingesetzt werden Injektionen von Schmerzmitteln, Lokalanästhetika oder Glucocorticoiden. Bei unspezifischen Kreuzschmerzen wirken Diclofenac-Spritzen Studien zufolge nicht besser oder schneller als ein orales Präparat. Auch für Lidocain oder Glucocorticoide liegt kein sicherer Wirksamkeitsnachweis vor. Dem steht das höhere Nebenwirkungs- und Komplikationspotenzial gegenüber, das von allergischen Reaktionen über Infektionen und Abszessbildung bis zu Nervenverletzungen reicht.
Gute Erfahrungen macht das Essener Rückenschmerz-Zentrum bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen dagegen mit trizyklischen Antidepressiva wie Amitriptylin und SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) wie Venlafaxin oder Duloxetin. »Diese Medikamente haben eine eigenständige schmerzreduzierende Wirkung«, betont Bingel. »Sie wirken über die noradrenerg vermittelte deszendierende Schmerzhemmung.« Ihren Patienten erklärt Bingel das als »eine Aktivierung der körpereigenen Schmerzbremse«.
Für die analgetischen Effekte werden deutlich niedrigere Dosierungen benötigt als zur Behandlung von Depressionen. Viele Schmerzpatienten leiden begleitend an depressiven Symptomen und/oder Schlafstörungen, die die Schmerzempfindlichkeit noch verstärken können. Hier nennt auch die Leitlinie von 2017 die Anwendung von Antidepressiva als »Kann-Empfehlung«.
Positive Aspekte sieht Bingel außerdem bei Antiepileptika vom Calciumkanal-Typ wie Gabapentin oder Pregabalin. Diese verschreibt sie gelegentlich bei Rückenschmerzen mit ausgeprägter neuropathischer Komponente – ebenfalls in niedriger Dosierung.
Jede medikamentöse Therapie sollte in regelmäßigen Abständen – in der Regel spätestens alle drei Monate – auf ihren Erfolg kontrolliert werden. »Viele Patienten nehmen aus Gewohnheit und Verzweiflung jahrelang Schmerzmittel ein, auch wenn’s nichts hilft«, weiß die Neurologin aus ihrer Praxis. Analgetika dürften immer nur als unterstützende Maßnahme dienen. Viel wichtiger sei es, die Betroffenen zu körperlicher Bewegung zu motivieren und auch psychosoziale und arbeitsplatzbezogene Aspekte in den Blick zu nehmen.
Aufklärung und Edukation sind wichtige Grundpfeiler der Behandlung unspezifischer Rückenschmerzen. Patienten müssen erkennen, dass psychosoziale Faktoren eine wichtige Rolle für ihr Krankheitsgeschehen spielen. Von mindestens ebenso großer Bedeutung ist die Einsicht, dass körperliche Aktivität keine Schäden verursacht, sondern die Linderung der Beschwerden fördert. »Es gibt keine falsche Bewegung«, betont Bingel. »Körperliches Training ist die beste Prävention und entscheidend für die Besserung von Rückenschmerzen.«
Körperliche Aktivität ist die beste Prävention von Rückenschmerzen. / Foto: DAK/Schläger
Je nach individuellen physischen Voraussetzungen müssen manche Muskelgruppen eher gedehnt, andere durch Krafttraining gestärkt werden. Welche Form der Bewegungstherapie am effektivsten zur Schmerzlinderung und Verbesserung der Funktionsfähigkeit beiträgt, ist aus Studien nicht abzuleiten. Entscheidend für die Auswahl sind nach Ansicht des Leitliniengremiums daher persönliche Präferenzen, Alltagsumstände, Fitness und die Anleitung durch einen Physiotherapeuten. Als zusätzliche Maßnahme haben sich Entspannungsverfahren, insbesondere die Progressive Muskelrelaxation, als wirksam erwiesen. Bei psychosozialen Risikofaktoren kann eine möglichst früh beginnende kognitive Verhaltenstherapie dazu beitragen, eine Chronifizierung und anhaltende Funktionseinschränkungen zu verhindern.
Kontraproduktiv ist dagegen alles, was eine passive Rolle der Patienten fördert. Dazu gehören beispielsweise Bettruhe, Stufenlagerung und medizinische Hilfsmittel wie Orthesen oder Schuheinlagen. Aufgrund fehlender Wirksamkeitsnachweise rät die Leitlinie auch ab von Kinesio-Taping, Kurzwellendiathermie, Interferenzstrom-, Laser- und Magnetfeldtherapie sowie perkutaner und transkutaner elektrischer Nervenstimulation (PENS, TENS).
Der Akupunktur bescheinigen einige Studien dagegen einen positiven Einfluss bei chronischen Rückenschmerzen. Aber auch sie sollte immer mit aktivierenden Maßnahmen kombiniert werden.
Zu den sogenannten »yellow flags«, die das Risiko für eine Chronifizierung erhöhen, zählen Depressivität, eine hohe Stressbelastung, niedriger Sozialstatus, Neigung zum Katastrophisieren und die Überzeugung, dass körperliche Aktivität die Schmerzerkrankung verschlimmert. Arbeitsplatzbezogene Faktoren umfassen beispielsweise häufige körperliche Schwerarbeit, Vibrationsexposition, gleichförmige Körperhaltung, berufliche Unzufriedenheit, Mobbing und mangelnde Anerkennung.
Relativ schwach ist dagegen die Evidenz für den Einfluss von Lebensstilfaktoren wie Übergewicht, Rauchen, geringe körperliche Kondition und reichlicher Alkoholgenuss. Offenbar kann auch die persönliche Einstellung des ärztlichen und therapeutischen Personals zur Chronifizierung beitragen: Vermitteln die Behandelnden, dass eine Heilung durch passive Maßnahmen, Spritzen und Krankschreibung erreichbar sei, unterstützen sie das Angst-Vermeidungs-Verhalten der Patienten. Verstärkt wird das durch die häufige Überdiagnostik und die »somatische Fixierung«, also die Überzeugung, dass hinter den Beschwerden eine schwere körperliche Ursache stecken muss.
Weil sie für den Krankheitsverlauf so wichtig sind, sollten die psychosozialen und arbeitsplatzbezogenen Risikofaktoren schon bei der Anamnese berücksichtigt werden, empfehlen die Leitlinien mit hoher Konsensstärke. Nach vier Wochen Schmerzdauer raten sie bei unzureichendem Therapieerfolg zum Einsatz eines standardisierten Screening-Instruments, beispielsweise dem Start-Back-Tool; das ist ein einfacher Fragebogen, mit dem das Chronifizierungsrisiko abgeschätzt werden kann. Spätestens nach zwölf Wochen ist ein multidisziplinäres Assessment angezeigt. Dazu gehört neben der ärztlichen Beurteilung die Expertise eines Physiotherapeuten und eines Psychotherapeuten oder Psychiaters.
Bei Kindern und Jugendlichen kann eine zusätzliche Familienberatung oder psychologische Diagnostik und Behandlung bereits beim ersten Arztkontakt sinnvoll sein, spätestens aber drei bis sechs Wochen nach Therapiebeginn.
»Das multidisziplinäre Assessment findet in Deutschland viel zu selten statt«, kritisiert Bingel. »Nur ein Bruchteil der chronischen Schmerzpatienten erhält die empfohlene multimodale Therapie.« Zum einen fehlten im ambulanten Bereich dafür die Versorgungsstrukturen, zum anderen sei die Vergütung nicht geregelt.
Besorgniserregend findet sie vor allem, dass kaum ein Arzt systematisch nach psychosozialen Risikofaktoren fragt – was vergleichsweise leicht zu bewerkstelligen wäre. Laut DAK-Gesundheitsreport wird der Zusammenhang von Stress und Rückenschmerzen nur bei jedem 20. Patienten thematisiert; mit jedem Fünften wird über den Umgang mit Schmerzen gesprochen. Im Rahmen des Projekts PAIN2.0 läuft seit Anfang 2022 ein multimodales Gruppenprogramm in 30 schmerztherapeutischen Einrichtungen in Deutschland, das als Selektivvertrag bereits von einigen Krankenkassen übernommen wurde.
Anders als bei Erwachsenen existieren für Kinder und Jugendliche mit unspezifischen Rückenschmerzen kaum aussagekräftige placebokontrollierte Studien zur Analgetikatherapie. Die neue Leitlinie spricht sich bei ihnen deshalb explizit gegen eine medikamentöse Therapie aus. Gesicherte Evidenz gibt es nur für die Wirksamkeit der aktiven Physiotherapie und der psychotherapeutischen Behandlung, insbesondere der kognitiven Verhaltenstherapie. Auch bei Heranwachsenden gilt – wie im Erwachsenenalter – als Goldstandard die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie, die der engen Verzahnung von Körper und Seele bei chronischen Rückenschmerzen Rechnung trägt.
Clara Wildenrath ist Diplom-Biologin, Wissenschaftsjournalistin und Buchautorin. Sie berichtet sowohl für Fachkreise als auch für Laien über Grundlagen und Neuerungen in der Medizin. Zu ihren Schwerpunktthemen gehören unter anderem die Gynäkologie, Immunologie und Biochemie.