HTA-Verfahren wird kein Ersatz |
Jennifer Evans |
10.11.2023 16:55 Uhr |
Es wird ruckeln, bis die EU-Nutzenbewertung mit dem AMNOG-Verfahren zusammenspielt. Dabei sind viele Kompromisse gefragt. / Foto: Shutterstock/Alexander Khoruzhenko
Für die EU-HTA-Verordnung, die seit Mitte Januar 2022 in Kraft ist, müssen die EU-Mitgliedstaaten rechtsverbindlich zusammenarbeiten, um ab 2025 gemeinsame Nutzenbewertungen von Gesundheitstechnologien erstellen zu können, sogenannte Health Technology Assessments (HTA). Darunter fallen unter anderem neue Arzneimittel sowie Gen- und Zelltherapien und Medizinprodukte. Der gemeinsame Weg der EU-Mitgliedstaaten ist eine Herausforderung, die viele Kompromisse erfordern wird. Darin waren sich die Vortragenden und Diskussionsteilnehmenden in einer Informationsveranstaltung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) am heutigen Freitag in Berlin einig.
Die EU hat die Vision, in Zukunft Doppelarbeit und Bürokratie zu vermeiden und gleichzeitig zu verhindern, dass ein Methodenstreit neue Therapieoptionen für Patienten verzögert. Das soll über gemeinsam durchgeführte Beratungsprozesse (Joint Scientific Consultations – JSC) und klinische Bewertungen (Joint Clinical Assessments – JCA) gelingen. Darüber hinaus erachtet sie die fragmentierten Bewertungssysteme der einzelnen Länder mit Blick auf den globalen Wettbewerb für äußerst nachteilig.
Zum Zeitplan: Zuerst steht ab 2025 die gemeinsame Bewertung für Onkologika sowie neuartige Therapien Advanced Therapy Medicinal Products (ATMP) auf der Agenda. Ab 2028 folgen dann Orphan Drugs. Zum Schluss stehen dann ab 2030 alle anderen Verfahren inklusive neuer Anwendungsgebiete und Medizinprodukte an. In der Hand der Mitgliedstaaten bleibt aber weiterhin, Werturteile sowie Schlussfolgerungen über den Zusatznutzen eines Produkts zu ziehen. Die Entscheidung über Preis und Erstattung bleibt ebenfalls ausschließlich in nationaler Verantwortung.
Generell dienen HTA-Berichte Ärzten, Kassen, Patienten und Gesundheitsbehörden dazu, sich wissenschaftliche Informationen zum Nutzen, Risiko, Kosten und Auswirkungen von Verfahren und Technologien in Bezug auf die gesundheitliche Versorgung zu holen.
Bei diesem Harmonisierungsprozess hat das deutsche System womöglich das Potenzial, als eine Art Blaupause für Europa zu dienen. Denn wie Josef Hecken, Unparteiischer Vorsitzender des G-BA, schilderte, läuft es hierzulande gar nicht mal so schlecht: Neue Onkologika waren in Deutschland Heckens Angaben zufolge zuletzt im Durchschnitt 37 Tage nach der Zulassung auf dem Markt. Verglichen mit anderen Ländern »jammern wir auf einem hohen Niveau«, so Hecken. In den Niederlanden habe es fast 300 Tage gedauert, in Spanien seien es durchschnittlich 540 Tage und in Polen 827 Tage gewesen, bis die Patientinnen und Patienten ein neues Präparat einnehmen konnten. In seinen Augen gilt es, den Status quo hierzulande zu erhalten.
Wie die EU mit dem HTA-Verfahren aber die Qualität verbessern will, bleibt für Hecken nach eigenen Angaben ein Rätsel. Hintergrund ist, dass Unternehmen, Ärzte oder Fachgesellschaften im Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) derzeit die Möglichkeit haben, zu den Nutzendossiers frühzeitig Stellung zu nehmen. Das ist auf EU-Ebene nicht so vorgesehen. Daher rührt die Sorge eines Qualitätsverlusts. Zudem bedauert Hecken, dass im EU-Zeitplan das Thema Medizinprodukte nicht schon früher auftaucht. Denn speziell dort liegt für ihn der größte Bedarf einer Harmonisierung.
Gedanken macht sich Hecken außerdem über mögliche Auswirkungen auf die Umsätze der Pharmaunternehmen, wenn es auf EU-Ebene künftig zu Verzögerungen kommen sollte. Auch hat er Zweifel daran, ob die Fristen für die sogenannten Erstattungsbetragsverhandlungen immer gehalten werden können. Doch inzwischen geht der G-BA-Vorsitzende die Harmonisierung deutlich positiver an als zu Anfang und hofft nun, das »Gute in Deutschland zu retten« und gleichzeitig »etwas Besseres für Gesamteuropa« entstehen zu lassen.
Grundsätzlich ist das EU-Verfahren kein Ersatz für die nationale Bewertung, wie Anna-Maria Mattenklotz hervorhob. Sie leitet das Referat Versorgung mit neuen Arzneimitteln und Pandemiearzneimitteln im Bundesministerium für Gesundheit (BMG). Den Fahrplan für die deutsche Markteinführung sieht sie nicht in Gefahr, geht also nicht von Verzögerungen aus. »Die nationalen Institutionen werden nicht ersetzt, sondern gestalten den europäischen Prozess mit«, betonte sie.
Wenn es allerdings um den Austausch von Daten gehe, gelte in Zukunft: »Europe first.« Zu bedenken sei ebenfalls: Daten, die bereits auf EU-Ebene eingereicht worden sein, dürften nicht erneut auf nationaler Ebene angefordert oder eingereicht werden.
Grundsätzlich müssen laut Mattenklotz alle Seiten zu Kompromissen bereit sein und gegenseitiges Verständnis für die jeweiligen Anforderungen mitbringen sowie voneinander lernen. Ein wenig beruhigend sollte sein, dass die EU-Bewertungen zunächst lediglich als Grundlage für nationale Entscheidungen dienen.
Das deutsche AMNOG-Verfahren ist von der EU-Verordnung also nur in der ersten Stufe betroffen, wenn es um die Bewertung der klinischen Studienlage geht. Während der G-BA dafür bis dato noch das IQWiG beauftragte, wird das Institut demnächst auf europäischer Ebene selbst an dem europaweiten HTA-Bewertungsbericht mitarbeiten. Ein weiterer Unterschied: Die EU-Kommission wird die Unternehmen künftig selbst dazu auffordern, ihre Dossiers einzureichen. Für die Bewertung sind demnach Angaben zu Patientenpopulation, Intervention, Komparatoren und Endpunkten nötig.
Der G-BA hat an diesem Tag auch eine Wunschliste erstellt, damit die Übergangsphase zum HTA-Verfahren für alle entspannt wird. Darauf steht unter anderem Folgendes:
Aus Sicht der Industrie bleibt »noch viel zu tun«. Das stellten der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH), der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie (BPI) sowie der Verband forschender Pharmaunternehmen (vfa) in einem gemeinsamen Statement klar. Die Erwartung der Hersteller ist, dass die Umsetzung der EU-HTA-Verordnung für sie ein »vorhersehbarer, praktikabler und effizienter Prozess mit reduziertem bürokratischem Aufwand« wird. Anders sei er zeitlich nicht zu stemmen. Damit das gelingt, wollen sie unter anderem in den gesamten HTA-Prozess eingebunden sein und fordern, die Evidenzanforderungen möglichst weitreichend anzugleichen, gemeint ist die Entwicklung eines EU-PICO.
Außerdem wünschen sie sich Augenmaß und Flexibilität. Denn Bewertungsprozesse für Orphan Drugs und ATMPs können ihrer Ansicht nach nicht über denselben Kamm geschert werden und bedürfen spezieller Methoden. Um tatsächlich doppelte Arbeit zu vermeiden, müssten die Ergebnisse der europäischen Bewertung im deutschen AMNOG-Prozess umfassend genutzt werden. »Folglich müssen Verwendung und Übernahme der gemeinsamen europäischen Arbeitsergebnisse im nationalen Prozess für den G-BA verpflichtend werden«, heißt es in dem Statement. Darüber hinaus sollten die Anforderungen an die Dossiervorlagen hierzulande künftig »deutlich effizienter ausgestaltet« sein.
Geht es nach BAH, BPI und vfa kann ein optimales Zusammenspiel des AMNOG-Verfahrens mit dem EU-HTA nur funktionieren, wenn die G-BA-Beratungen hinsichtlich nationaler Zusatzanalysen gestärkt werden.