Pharmazeutische Zeitung online
Aufarbeitung

Heimkinder jahrzehntelang für Arzneimittelstudien missbraucht

Für Arzneimittelstudien gab es in den Nachkriegsjahrzehnten wenig verbindliche Regeln. Medikamente und Impfstoffe wurden vielerorts an Heimkindern getestet. Eine neue Studie beschreibt das Ausmaß.
dpa
15.03.2019  12:46 Uhr

Kinder und Jugendliche aus niedersächsischen Heimen sind in der Nachkriegszeit für Medikamentenversuche benutzt worden. Das belegt eine Studie im Auftrag des Sozialministeriums, die am Donnerstag in Hannover vorgestellt wurde. Demnach wurden zwischen 1945 und 1978 an den kinderpsychiatrischen Abteilungen des Psychiatrischen Krankenhauses Wunstorf und der Universität Göttingen, in der Kinderklinik der Universität Göttingen, den Rothenburger Anstalten und im heilpädagogischen Kinder- und Jugendheim Brunnenhof in Rehburg-Loccum Medizintests und Impfversuche durchgeführt. Neben Psychopharmaka wurden zum Beispiel Polio-Impfstoffe an Heimkindern getestet. In vielen Fällen handelte es sich um noch nicht zugelassene Arzneimittel.

Die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen konnte die Studie nicht klären. Für den knapp 170 Seiten langen Bericht werteten die Wissenschaftlerinnen Sylvelyn Hähner-Rombach und Christine Hartig unter anderem Veröffentlichungen zu Arzneimittel- und Impfstudien, Dokumente aus Firmenarchiven und Akten aus staatlichen Einrichtungen des Landes Niedersachsen aus. Die Historikerinnen arbeiteten für das Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung, Hähner-Rombach ist nach Angaben der Einrichtung im Januar gestorben.

Die Studie legt nahe, dass die Sorgeberechtigten der betroffenen Jungen und Mädchen nicht immer angemessen über die Versuche aufgeklärt wurden. Mitunter fehlte die Einverständniserklärung. Als problematisch beschreiben die Wissenschaftlerinnen zudem, dass Tests durchgeführt wurden, obwohl für die Minderjährigen keine positiven Auswirkungen erwartbar waren. Demnach ist möglich, dass beruhigende Medikamente gegeben wurden, um die Betreuung der Kinder und Jugendlichen zu erleichtern. «Bei den Studien wurde gegen ethische und fachliche Standards verstoßen, für die Impfstudien ist zudem von Rechtsverstößen auszugehen», heißt es in dem Bericht, der auch die Rolle der öffentlichen Verwaltung untersucht hat.

Demnach hat das Sozialministerium im Fall der Impfungen von den Rechts- und Normverletzungen gewusst. «In mehreren Fällen wurde es unterlassen, das Einhalten von Rechtsvorschriften für Impfungen und Impfversuche einzufordern», schreiben die Wissenschaftlerinnen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätten einzelne Mitarbeiter des Ministeriums auch von den Arzneimittelstudien gewusst. Möglich sei zudem, dass Angestellte von Jugendämtern Kenntnisse von den Tests mit nicht zugelassenen Medikamenten hatten. Es könne sein, dass die enge Verbindung von Heimaufsicht, Psychiatrie und praktischer Jugendfürsorge bestimmte Arzneimittelstudien erleichtert habe.

Sozialministerin Carola Reimann (SPD) nannte die Aufarbeitung der Vergangenheit wichtig. «Der Blick auf diese noch gar nicht so lang vergangenen Vorfälle gibt Anlass, auch heutige Schutzsysteme für Menschen in Obhut von öffentlicher Verwaltung und die Dynamik von Arzneimittelforschung kritisch zu hinterfragen», sagte sie. Auch für die Betroffenen sei es wichtig, die damaligen Vorgänge transparent und vollständig aufzuklären.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag, Anja Piel, sagte, die Ergebnisse zeigten ein erschreckendes Bild des jahrzehntelangen Unrechts an Kindern und Jugendlichen. «Die erlittenen Qualen und das anhaltende Leid der Betroffenen sind durch nichts wieder gut zu machen. Umso wichtiger ist es, dass Täter, Mitwisser und beteiligte Pharmaunternehmen identifiziert und nach Möglichkeit zur Verantwortung gezogen werden.» Opfer müssten unbürokratisch und zügig die ihnen zustehenden Entschädigungen erhalten.

Das Ministerium verwies darauf, dass das Feld der Arzneimittelforschung in der Bundesrepublik bis Ende der 1970er-Jahre weitgehend der Selbstkontrolle der Ärzteschaft und Pharmaindustrie überlassen war. Demnach wurde der Schutz der Probanden erst durch die Neufassung des Arzneimittelgesetzes explizit geregelt, die im Jahr 1978 in Kraft trat. Um die Medikamenten- und Impfversuche in Niedersachsen vertiefend zu untersuchen, hat das Sozialministerium ein weiteres Forschungsprojekt beauftragt. Dieses soll die Auswirkungen auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie die Rolle der öffentlichen Verwaltung in den Fokus nehmen.

Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
 
FAQ
SENDEN
Wie kann man die CAR-T-Zelltherapie einfach erklären?
Warum gibt es keinen Impfstoff gegen HIV?
Was hat der BGH im Fall von AvP entschieden?
GESAMTER ZEITRAUM
3 JAHRE
1 JAHR
SENDEN
IHRE FRAGE WIRD BEARBEITET ...
UNSERE ANTWORT
QUELLEN
22.01.2023 – Fehlende Evidenz?
LAV Niedersachsen sieht Verbesserungsbedarf
» ... Frag die KI ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln. ... «
Ihr Feedback
War diese Antwort für Sie hilfreich?
 
 
FEEDBACK SENDEN
FAQ
Was ist »Frag die KI«?
»Frag die KI« ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums versehen, in denen mehr Informationen zu finden sind. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung verfolgt in ihren Artikeln das Ziel, kompetent, seriös, umfassend und zeitnah über berufspolitische und gesundheitspolitische Entwicklungen, relevante Entwicklungen in der pharmazeutischen Forschung sowie den aktuellen Stand der pharmazeutischen Praxis zu informieren.
Was sollte ich bei den Fragen beachten?
Damit die KI die besten und hilfreichsten Antworten geben kann, sollten verschiedene Tipps beachtet werden. Die Frage sollte möglichst präzise gestellt werden. Denn je genauer die Frage formuliert ist, desto zielgerichteter kann die KI antworten. Vollständige Sätze erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer guten Antwort.
Wie nutze ich den Zeitfilter?
Damit die KI sich bei ihrer Antwort auf aktuelle Beiträge beschränkt, kann die Suche zeitlich eingegrenzt werden. Artikel, die älter als sieben Jahre sind, werden derzeit nicht berücksichtigt.
Sind die Ergebnisse der KI-Fragen durchweg korrekt?
Die KI kann nicht auf jede Frage eine Antwort liefern. Wenn die Frage ein Thema betrifft, zu dem wir keine Artikel veröffentlicht haben, wird die KI dies in ihrer Antwort entsprechend mitteilen. Es besteht zudem eine Wahrscheinlichkeit, dass die Antwort unvollständig, veraltet oder falsch sein kann. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung übernimmt keine Verantwortung für die Richtigkeit der KI-Antworten.
Werden meine Daten gespeichert oder verarbeitet?
Wir nutzen gestellte Fragen und Feedback ausschließlich zur Generierung einer Antwort innerhalb unserer Anwendung und zur Verbesserung der Qualität zukünftiger Ergebnisse. Dabei werden keine zusätzlichen personenbezogenen Daten erfasst oder gespeichert.

Mehr von Avoxa