Heilberufe warnen vor Kollaps der Versorgung |
Die massiven Belastungen der Apotheken bedrohen laut AVNR-Chef Thomas Preis die Arzneimittelversorgung in Nordrhein. / Foto: PZ/Alois Mueller
Am 11. Oktober 2023 gründete die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) das Aktionsbündnis »Praxiskollaps«. Daran beteiligen sich 36 ärztliche und psychotherapeutische Berufsverbände und Versorgergruppen aus Nordrhein, informierte Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der KVNO, bei der Online-Pressekonferenz am heutigen Dienstag. Grund für die Gründung des Aktionsbündnisses seien Unmut, Frust, Ärger und massive Existenzängste der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in der Region Nordrhein. »Die wohnortnahe ambulante Versorgung, wie wir sie kennen, ist in akuter Gefahr«, warnte Bergmann. Betroffen sind ihm zufolge alle freien Heilberufe. Aus diesem Grund unterstützen auch Thomas Preis, Vorsitzender des AVNR, sowie Andreas Kruschwitz, Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Nordrhein, die Initiative der KV Nordrhein.
AVNR-Chef Preis hält den Schulterschluss der Heilberufe für dringend notwendig. Die aktuelle Gesundheits- und Arzneimittelsituation im Land sei extrem unbefriedigend und reformbedürftig. Seit 2017 sei die Zahl der Apotheken in Nordrhein um mehr als 6 Prozent gesunken. Gleichzeitig nehme der Versorgungsbedarf in der Bevölkerung durch die zunehmende Zahl älterer Menschen zu. Nach Berechnungen des AVNR werde das in den nächsten zwei Jahrzehnten zu einer Zunahme der Arzneimittelabgaben und von sonstigen pharmazeutischen Leistungen von mehr als 30 Prozent führen. Allein bei den besonders beratungsintensiven über 70-Jährigen werde der Bedarf an Arzneimitteln um über 70 Prozent steigen. »Die verbleibenden Kolleginnen und Kollegen müssen also in Zukunft erheblich mehr Bürgerinnen und Bürger mit Medikamenten versorgen«, beschrieb Preis die Problematik. Angesichts massiver Lieferengpässe bei Arzneimitteln und eines eklatanten Fachkräftemangels bedeute das eine besondere Herausforderung.
Eine zusätzliche Belastung für die Apothekenteams stellten die Lieferengpässe dar. Derzeit fehlten 509 Arzneimittel. »Noch nie sind wir so schlecht vorbereitet in den Winter gegangen«, sagte Preis. Statistisch gesehen sei derzeit jedes zweite Rezept von Engpässen betroffen, und das in allen Arzneimittel-Gruppen. »Arzneimittel gehören zur Daseinsvorsorge. Der Staat muss hier mehr Verantwortung übernehmen. Die bisherigen Maßnahmen sind nicht ausreichend«, machte der AVNR-Chef deutlich. Das Lieferengpass-Gesetz (ALBVVG) habe bisher nur unzureichend Wirkung gezeigt.
Das Management der Engpässe belaste die Apothekenteams enorm, führte er weiter aus. Dies verursache monatlich zusätzliche Kosten von etwa 3000 Euro pro Apotheke. Das seien im Jahr etwa 36.000 Euro pro Apotheke, NRW-weit insgesamt über 135 Millionen Euro und bundesweit mehr als 600 Millionen Euro im Jahr, rechnete Preis vor.
Infolge der zahlreichen Belastungen sinke die Zahl der Apotheken immer weiter. Mit nur noch 17.830 Apotheken sei diese in Deutschland im ersten Halbjahr 2023 auf 21,1 Apotheken pro 100.000 Einwohner gesunken. »Das ist ein trauriger Negativrekord«, sagte Preis. Auch Nordrhein-Westfalen sei von den Schließungen extrem betroffen. Er gehe davon aus, dass es Ende dieses Jahres in NRW weniger als 3700 Offizinen geben wird. Vor 10 Jahren seien es noch 4500 gewesen. Zugleich litten die Apotheken unter steigenden Kosten. So seien die Gesamtkosten von Januar bis Juni 2023 um 3,3 Prozent gestiegen. Allein die Personalkosten erhöhten sich um 6,6 Prozent. Das Betriebsergebnis einer durchschnittlichen Apotheke vor Steuern und Altersvorsorge sei dadurch in den ersten sechs Monaten dieses Jahres im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahrs auf 64.000 Euro gesunken.
»Die Apotheker haben fast keine Möglichkeit, diesen Entwicklungen gegenzusteuern«, bemängelte Preis. Angesichts der vielfältigen Belastungen und steigender Betriebskosten seien derzeit zehn Prozent der Apotheken im Land akut von Schließung bedroht. Er kritisierte, dass der Festzuschlag seit über 10 Jahren nicht angepasst wurde. Zusätzlich müssten die Offizinen seit Februar 2023 einen erhöhten Kassenabschlag verkraften. Scharfe Kritik übte der AVNR-Vorsitzende auch an den neuesten Plänen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) zur Liberalisierung des Apothekenmarktes. »Diese lehnt die Apothekerschaft entschieden ab«, stellte er klar. Apotheken ohne Apotheker, ohne Notdienste, ohne Labor und ohne ausreichendes Honorar führten zu einer Zweiklassen-Versorgung der Menschen und würden den Notwendigkeiten einer älter werdenden Gesellschaft nicht gerecht. Aus Protest gegen die Politik von Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach (SPD) protestierten Apotheker und ihre Mitarbeiter in NRW, Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland gemeinsam am morgigen Mittwoch in Dortmund. Viele Apotheken würden dann geschlossen bleiben, kündigte Preis an.
Die Probleme der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte beschrieb der KV-Vorstandsvorsitzende Frank Bergmann. Die Praxen litten unter Unterfinanzierung, Budgetierung, überbordender Bürokratie und Fachkräftemangel. Die Praxisinhaber fänden immer schwerer Nachfolger. »Der Kollaps droht wortwörtlich«, verdeutlichte er und betonte: »Die Politik muss Verantwortung übernehmen, sonst können die Niedergelassenen nicht mehr das leisten, was von ihnen erwartet wird.« Er forderte insbesondere eine höhere Bewertung der vertragsärztlichen Leistungen im Notdienst. Bereits bei einem Krisentreffen am 18. August hätten die Niedergelassenen sieben Forderungen ans BMG formuliert. Dabei verlangten sie unter anderem eine Abschaffung der Budgetierung sowie weniger Bürokratie. Erst am 21. September habe sich das BMG zu Wort gemeldet und ausweichende Versprechungen gemacht, diese allerdings nicht eingehalten. Die Eckpunkte zum Bürokratieabbau bezeichnete er ebenfalls als unzureichend. »Wir werden so lange auf den drohenden Kollaps aufmerksam machen, bis wir Gehör finden«, kündigte er an.
Unter der aktuellen Gesundheitspolitik leiden auch die Zahnarztpraxen, machte Andreas Kruschwitz, Vorstandschef der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Nordrhein, deutlich. »Die Stimmung in den zahnärztlichen Praxen ist schlecht«, sagte er. Die zunehmende bürokratische Belastung schrecke viele junge Zahnärztinnen und Zahnärzte davon ab, eine Praxis zu gründen. Kruschwitz kritisierte zudem Kürzungen bei der Behandlung von Parodontitis und forderte, diese zurückzunehmen. Aus Protest gegen die Gesundheitspolitik habe die Zahnärzteschaft die Kampagne »Zähne zeigen« gestartet. »Wir werden weiter für unsere Forderungen kämpfen und hoffen, ein Umdenken im BMG zu erreichen«, betonte Kruschwitz.