Gründe für die Überverschreibung von Medikamenten |
| Melanie Höhn |
| 24.07.2025 18:00 Uhr |
Neben dem Einfluss der Pharmaindustrie trägt laut der Analyse auch die Struktur vieler Gesundheitssysteme zur Überverschreibung bei. / © Imago/Zoonar
Laut eines Regierungsberichts des National Health Service (NHS) in England aus dem Jahr 2021 werden bis zu 10 Prozent aller Medikamente »überverschrieben«, gelten also als potenziell unangemessen (»Potentially Inappropriate Prescribing«), haben einen niedrigen medizinischen Nutzen (»Low-Value Prescribing«) oder sind vermeidbar im Sinne besserer Alternativen wie etwa Lebensstiländerungen.
Eine aktuelle Analyse im »British Journal of General Practice« von der Allgemeinmedizinerin Caroline McCarthy an der RCSI University of Medicine and Health Sciences in Dublin widmet sich nun erneut der Thematik des Overprescribings von Medikamenten. Eine zentrale Kernbotschaft ist, dass dies nicht nur ein ärztliches, sondern ein systemisches Problem ist. Pharmaindustrie, Gesundheitssysteme, medizinische Ausbildung und kulturelle Normen würden dabei gemeinsam Verantwortung tragen, so McCarthy, die rund um Verschreibung und Patientensicherheit forscht und nebenbei in einer Hausarztpraxis tätig ist.
Interventionen zur Bekämpfung des Overprescribings würden sich in der Regel auf die Änderung des Verschreibungsverhaltens von medizinischem Fachpersonal konzentrieren, heißt es in der Analyse. Denn eine zentrale Herausforderung sei die Fähigkeit von Ärztinnen und Ärzten, Risiken und Nutzen korrekt einzuschätzen und zu kommunizieren. Obwohl diese Bemühungen wichtig und wirksam sind, argumentiert die Autorin, dass auch systemische Veränderungen erforderlich sind, um der steigenden Überverschreibungsrate erfolgreich entgegenzuwirken.
Die Pharmaindustrie spiele eine bedeutende Rolle bei der Förderung medizinischer Interventionen. Marketingkampagnen und direkte Patientenansprache, zumindest in Ländern, in denen dies möglich ist, würden zur Ausweitung von Indikationen beitragen. Dies zeige sich beispielsweise in der Vermarktung von Medikamenten zur Gewichtsreduktion oder der Rolle pharmazeutischer Unternehmen in der Entwicklung der US-Opioid-Krise. Der Bedarf einer strengeren Regulierung von Werbemaßnahmen und Interessenkonflikten ist ein zentrales Ergebnis der Analyse. In Deutschland sind diese Marketingmaßnahmen im Rx-Bereich nicht möglich,
Der zunehmende Konsum, oft unterstützt durch die Finanzierung von Pharmaunternehmen und Selbsthilfegruppen, hat laut McCarthy zu der weit verbreiteten Überzeugung beigetragen, viele Herausforderungen des Lebens könnten medizinisch behandelt oder angegangen werden. Dies führe zu Narrativen, die normale physiologische Prozesse oder Lebenserfahrungen medikalisieren und glauben, für jedes Symptom gebe es eine pharmakologische Lösung. Gleichzeitig lenke dies von nicht pharmakologischen Behandlungsansätzen ab.
Über den Einfluss der Pharmaindustrie hinaus trägt laut McCarthy auch die Struktur vieler Gesundheitssysteme zur Überverschreibung bei. In Systemen mit leistungsbezogenen Finanzierungsmodellen bestehe ein inhärenter finanzieller Anreiz, das Leistungsangebot, einschließlich diagnostischer Tests und Behandlungen, unabhängig von deren Notwendigkeit zu erhöhen. »Dies kann zu einer Kultur führen, in der Verschreibungen oder Interventionen der Standardansatz sind, anstatt abzuwarten oder sich auf Lebensstiländerungen und Präventionsmaßnahmen zu konzentrieren«, so McCarthy.
Zudem würden Medikamente, die früher Fachärzten vorbehalten waren, zunehmend auf Empfehlung von Sekundärärzten verschrieben und in der Allgemeinmedizin weiterverordnet. Dieser Wandel berge die Gefahr, den Einsatz von Spezialmedikamenten zu normalisieren und könne zu einer schleichenden Indikationsausweitung beitragen, da deren Verschreibung in der Primärversorgung immer routinemäßiger werde. Beispiele für die Anwendung von Antipsychotika würden dies zeigen. Das Erkennen und Ansprechen dieser systemischen Faktoren sei entscheidend für die Entwicklung von Strategien zur Reduzierung der Überverschreibung.
Nur durch strukturelle Reformen, kritisches Denken und gesellschaftlichen Diskurs könne ein nachhaltiger Umgang mit Medikamenten erreicht werden, so das Fazit der Autorin.