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Hamburger Apothekerverein
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Graue warnt vor zu viel Staatseinfluss bei AvP-Insolvenz

Den Staat in Krisenzeiten zur Hilfe zu rufen, kann problematisch werden, denn »wenn er gerufen wird, kommt er in der Regel, um zu bleiben«. Das betonte der Vorsitzende des Hamburger Apothekervereins, Jörn Graue, am gestrigen Mittwoch bei der Online-Mitgliederversammlung des Vereins. Graue spielte damit auf die Insolvenz des Rechenzentrums AvP an.
AutorChristiane Berg
Datum 05.11.2020  15:00 Uhr

Von Unregelmäßigkeiten bei dem Düsseldorfer Rechenzentrum sei schon seit 2018 die Rede. »Niemand konnte und wollte jedoch die tickende Zeitbombe wahrnehmen«, sagte Graue. Nunmehr sei die Ohnmacht der Betroffenen offenbar. »Viel schlimmer noch: Konkrete Hilfe zeichnet sich nicht ab.«

Unklar werde auch bleiben, »wie viele wie lange von der Misere gewusst oder sie sogar geduldet haben«. Ob Unvermögen oder Betrug, ob  Missmanagement, veruntreute Gelder oder gefälschte Bilanzen: Es bleibe abzuwarten, was das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren zu Tage fördert. Fest stehe: »Es wurden Warnungen überhört, weil, was nicht sein kann, auch nicht sein darf«, sagte Graue, der auch Vorsitzender des Norddeutschen Apothekenrechenzentrums – NARZ ist.

Warnung vor Strukturpolitik

Der LAV-Vorsitzende bezeichnete es als »bitter«, dass sich die von verschiedenen Anwälten genährte Hoffnung auf Aussonderung der Rezepte bei einigen Apotheken zugunsten der Insolvenzmasse buchstäblich in Luft aufgelöst habe. Diese sei durch die Erklärung des Insolvenzverwalters zum »Surrogat unerfüllbarer Wünsche« geworden. »Das Spiel ist aus. Und die Geier sind schon unterwegs. Da helfen auch keine Bekundungen oder nutzlose Lippenbekenntnisse«, so Graue.

Er warnte vor dem in Krisenzeiten zwar verständlichen, aber doch gefährlichen Ruf nach dem Staat – zumal »die Malaise, wie jetzt die Insolvenz von AvP, von diesem bewusst in Kauf genommen« werde. Schleichend könnte dieser beginnen, Strukturpolitik mit allen bekannten negativen Begleiterscheinungen und Folgen zu betreiben. Mit jeder Stützungsmaßnahme steige sein Einfluss weiter.

Kontrolle durch Standesgremien funktioniert

»Der Staat gewinnt an Macht auf Kosten des Individuums und der Eigenverantwortung. Dadurch wird das Fundament einer freiheitlichen, sozialmarktwirtschaftlichen Ordnung unterhöhlt«, warnte Graue. Viele, die wie jetzt im Fall AvP nach der schützenden Hand des Staates rufen, seien sich dessen nicht bewusst, oder schlimmer noch, wollen diesen Prozess noch fördern, sagte er. »Wenn der Staat gerufen wird, kommt er in der Regel, um zu bleiben«, unterstrich Graue.

Der Gesetzgeber habe in § 300 Abs. 2 SGB V festgeschrieben, dass Apotheker zur Rezeptabrechnung Rechenzentren in Anspruch nehmen können, und die Historie zeige, dass die Kontrolle durch Standesgremien – beim NARZ e.V. etwa durch Verwaltungsrat, Vorstand und Rechnungsprüfer – fast ausnahmslos wirksam sei und die Apotheken hinlänglich vor Schäden bewahre.

Zudem hätten die Landesapothekervereine und -verbände, die zur Erleichterung der Rezeptabrechnung für die Krankenkassen eigene Abrechnungsstellen in ihren Häusern einrichteten, dafür keiner staatlichen Regelung bedurft. Dies zeige ein Blick in die Vergangenheit.

Finanzieller Druck zu Lasten der Sicherheit

Später, als die Abrechnungsmodalitäten komplizierter wurden, haben sich regionale Standesrechenzentren herausgebildet, die unter Kontrolle der Gremien der Apothekerverbände die Abrechnung zentralisierten. Damit habe man jedoch nicht ausschließen können, dass auch kommerzielle, nur halbstaatlicher Kontrolle unterliegende Abrechner den Apotheken ihre Dienste anbieten. Der so entstandene Wettbewerb habe den finanziellen Druck auf die Rechenzentren zwangsläufig auch zu Lasten ihrer Sicherheit wachsen lassen. Eine wirtschaftliche Schieflage sei oftmals automatische Folge.

Sicherlich, so Graue weiter, genüge es nicht, dass an Stelle der Kann-Bestimmung im SGB V § 300 Abs. 2 eine Muss-Bestimmung rückt. Daraus ergebe sich keine staatliche Verpflichtung, Schaden zu ersetzen. »Gegen kriminelles Handeln ist kein Kraut gewachsen. Dass auch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht nur beschränkte Möglichkeiten besitzt, Fehlverhalten im Vorhinein zu sehen, zeigen auch die Vorgänge um Wirecard«, so Graue.

Auch wenn es nicht völlig unmöglich sei: Ein Abtretungs- bzw. Fakturierungsverbot, wie es im § 53 des SGB I Abs. 1 auch für soziale Sachleistungen wiedergegeben ist, lasse sich nur schwerlich im § 300 Abs. 2 SGB V unterbringen. Dabei sei allerdings darauf zu achten, dass kein Nachteil in Form eingeengter Spielräume für die Geschäftsmodelle der Abrechnungszentren eingehandelt wird. »Das Debakel wäre dann perfekt.« Mit einer solchen Vorgabe werde eine Separierung offener Treuhandkonten zwar sicherer, schütze aber nur bedingt vor krimineller Energie.

Hilfsangebote als Zeichen der Solidarität

Gesetzlich vorgeschriebene zeitnahe Kontrollen nicht nur der Verwaltungs-, sondern auch der offenen Treuhandkonten wären demnach ein probateres Mittel, um Unregelmäßigkeiten in einem frühen Stadium zu erkennen. Aber auch hier bleibe die Frage, wer die Kontrolleure kontrolliere. Er sei sich bewusst, dass die Hilfsangebote von Verbänden, Großhandlungen und Banken das Leid der betroffenen Apotheken vordergründig lindern könnten, indem dadurch eine gewisse Solidarität zum Ausdruck komme, fuhr Graue fort. »Helfen kann sich jeder nur selbst in seinen bescheidenen Möglichkeiten.«

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