Graue warnt vor Chargenübermittlung beim E-Rezept |
| Daniela Hüttemann |
| 16.11.2022 18:00 Uhr |
Warnte vor den Gefahren des E-Rezepts: Dr. Jörn Graue, Vorsitzender des Hamburger Apothekervereins. / Foto: PZ/Daniela Hüttemann
Mit der Einführung des E-Rezepts werden die Apotheken auch verpflichtet, die Chargennummer der abgegebenen Arzneimittelpackung in den Abrechnungsdatensatz zu übernehmen und damit der Krankenkasse zu übermitteln. Dies soll den Krankenkassen ermöglichen, im Fall von Chargenrückrufen die betroffenen Patienten schnell ermitteln und informieren zu können. Außerdem stehen den Krankenkassen in bestimmten Fällen Schadenersatzansprüche gegenüber dem jeweiligen Pharmaunternehmen zu.
Wie ist diese Verpflichtung zur regelhaften Abgabe der Chargennummer ins Gesetz geraten, fragte sich der Vorsitzende des Hamburger Apothekervereins, Dr. Jörn Graue. »Inzwischen habe ich herausgefunden, dass diese Regelung auf einem weithin unbekannten Schiedsspruch vom Dezember 2020 zur Mitwirkungspflicht der Apotheken bei Ersatzansprüchen der Krankenkassen nach § 131a Abs.1 in Verbindung mit § 129 Abs. 4b SGB V beruht«, berichtete Graue bei der jährlichen Mitgliederversammlung am Dienstagabend.
In der Sache heißt der seit dem 1. Januar 2022 geltende Schiedsspruch: Für den vergleichsweise höchst seltenen Fall, dass die Krankenkassen wegen von ihnen vergüteter Leistungen rückgerufener Arzneimittel Ansprüche nach § 131 a SGB V Abs. 1 SGB V in Verbindung mit § 129 Abs. 4 b SGB V gegen die Lieferanten abgebender Apotheken geltend machen wollen, muss jede öffentliche Apotheke bei sämtlichen Abgaben von Fertigarzneimitteln die Chargennummer angeben und mitteilen. »Das geht aber extrem über das hinaus, was der Gesetzgeber verlangt«, beschwerte sich der Vereinsvorsitzende.
Die 100-prozentige Erfassung und Übermittelung der Chargennummern für einen sehr geringen Prozentsatz an potenziellen Erstattungsansprüchen sei nicht erforderlich und auch mit Blick auf das Sparsamkeitsgebot nicht verhältnismäßig, kritisiert Graue. Er sieht hier nicht nur eine weitere Ausweitung der Retaxationsmöglichkeiten der Krankenkassen ohne gesetzliche Grundlage, sondern darüber hinaus datenschutzrechtliche Bedenken, die auf die Apotheken zurückfallen könnten.
Die Verknüpfung der Chargennummer mit dem Arzneimittel stelle einen hochsensiblen personenbezogenen Datensatz dar, dessen anlasslose Übermittlung an Dritte aus datenschutzrechtlicher Sicht nicht zulässig ist. »Folglich dürften die Apotheken aus datenschutzrechtlicher Sicht ohne freiwillige Einwilligung des Patienten mit der Chargennummer verknüpfte Angaben mittels E-Rezept eigentlich nicht zur Abrechnung einreichen, da hierfür sowohl nach europäischem als auch nationalem Recht bislang keine Grundlage besteht - hier tickt wieder einmal eine Zeitbombe«, warnte Graue.
Seine Rechtsauffassung bestätigten auch zwei rechtliche Gutachten, die er in Auftrag gegeben hatte, einmal beim Datenschutz Nord und zusätzlich bei Dr. Hilko Meyer, Professor für Europarecht, europäisches Wirtschaftsrecht und Recht des Gesundheitswesens an der Frankfurt University of Applied Sciences. Graue habe bereits eine entsprechende Anfrage an den Hamburger Landesdatenschützer gestellt und die Verantwortlichen in Berlin informiert. »Schweigen im Walde ist bislang die Antwort auch auf Nachfrage«, berichtete der HAV-Vorsitzende gestern.
»Den Datenschutz jedoch so ganz zu negieren, um die schnelle Einführung des elektronischen Rezeptes, koste was es wolle, rücksichtslos durchzusetzen, so wie jüngst auch unserer Standesvertretung in den Mund gelegt, lässt völlig außer Acht, dass ein wichtiges Grundrecht verletzt wird.«
Er sprach sich dagegen aus, dass sich die Apothekerschaft als Vorreiter eines unausgegorenen E-Rezepts setzen lässt. »Ein solches System darf erst in Kraft gesetzt werden, wenn es wirklich rund läuft und die notwendige Sicherheitsarchitektur einwandfrei implementiert ist. Bis dahin ist noch ein weiter Weg, um ein hervorragend funktionierendes System zu ersetzen, das Cyberangriffe nicht kennt, auch durch Stromausfälle nicht völlig außer Kraft gesetzt wird und den ausländischen Versendern nicht zusätzlich in die Hände spielt.« Er schätzt, dass dies nicht vor 2024, eher 2025 der Fall sein wird.
Graue warnte zudem vor weiteren Retaxfallen beim E-Rezept: »Dies beginnt schon bei der Frage der europarechtlichen Gültigkeit der Quittungssignatur, setzt sich dann fort bei dem versehentlichen Auseinanderfallen von verordnendem und signierendem Arzt, der falschen Schreibweise des Kostenträgers, der Abweichung vom Artikelstamm und der möglichen Änderung des Zuzahlungsstatus‘ des Patienten zwischen Ausstellung und Einlösung des Rezepts.« Diese Aufzählung sei noch nicht einmal vollständig.
»Wenn hier durch eine drohende Retax-Welle weitere wirtschaftliche Ressourcen verloren gehen, ist dies nicht mehr hinzunehmen«, verdeutlichte der HAV-Vorsitzende. »Wir kämpfen in unseren Apotheken mit Personalmangel, nicht funktionierenden Lieferketten, Chipmangel und immer neuen bürokratischen Anforderungen.«
Vorläufig letzter Schlag ins Gesicht seitens der Politik ist der ab 1. Februar 2023 fällige höhere Kassenabschlag. »Finanziell muss es doch darum gehen – insbesondere vor dem Hintergrund des erheblichen Imagegewinns der Apothekerschaft in der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Pandemiebewältigung – das Fixum zu erhöhen oder zusätzliche Vergütungselemente zu kreieren, deren Benefit nicht durch einen entsprechenden Aufwand zunichte gemacht wird«, so Graue mit Bezug auf die pharmazeutischen Dienstleistungen, die wenn überhaupt kostendeckend, nicht gewinnbringend kalkuliert wurden.
Der HAV fordert wie schon zuvor der Apothekerverband Schleswig-Holstein einen Inflationsausgleich von mindestens 10 Prozent. Graue: »Schafft endlich Grundlagen, die das wirtschaftliche Überleben nicht nur großer Einheiten, sondern auch der lebensnotwendigen Einzelapotheke auf dem Land oder in der Stadt, die wir alle für die flächendeckende Versorgung benötigen, garantieren.«
Das Papier-Rezept ist ein Auslaufmodell. Mit dem E-Rezept sollen alle Arzneimittel-Verordnungen über die Telematikinfrastruktur abgewickelt werden. Wir berichten über alle Entwicklungen bei der Einführung des E-Rezeptes. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite E-Rezept.