Gesundheitskompetenz in der Apotheke stärken |
Stellten heute die Ergebnisse der Studie zur psychischen Gesundheitskompetenz vor (von links): Tina Haase (Wort & Bild-Verlag), Professor Orkan Okan (TU München), Stephanie Engelmann (KKH), Professor Kai Kolpatzik (Wort & Bild-Verlag). / © PZ/Anne Orth
Psychische Erkrankungen sind in Deutschland auf dem Vormarsch. Gleichzeitig verfügen neun von zehn Erwachsene (86 Prozent) nur über eine sehr geringe psychische Gesundheitskompetenz. Sie wissen nicht, wann bei psychischen Problemen Hilfe in Anspruch genommen werden sollte und wie sie überhaupt Unterstützungsangebote finden. Das ergab eine heute veröffentlichte Studie der Technischen Universität München (TU München) in Kooperation mit der »Apotheken Umschau«. Für die repräsentative Studie befragte die TU München von Juli bis August 2024 bundesweit 2000 Erwachsene ab 18 Jahren und 500 Auszubildende.
Etwa 69 Prozent der Befragten haben demnach Probleme, die Verlässlichkeit von Informationen einzuschätzen und zum Beispiel herauszufinden, ob Informationen frei von kommerziellen Interessen sind.
Die geringe psychische Gesundheitskompetenz ist laut der Studie in allen sozialen Schichten verbreitet. Bei Frauen und Männern, beim Alter oder bei den Einkommensgruppen zeigen sich keine Unterschiede. Die Befragung ergab lediglich, dass Menschen mit niedrigerer Bildung oder mit einem Migrationshintergrund der Umgang mit Informationen zur psychischen Gesundheit etwas schwerer fällt als Menschen mit höherer Bildung und ohne Migrationshintergrund. Zugleich gaben mehr als zwei Drittel der Befragten (69,9 Prozent) an, jemanden zu kennen, der eine psychische Erkrankung hat oder hatte – die eigene Person eingeschlossen.
Um die Gesundheitskompetenz von Auszubildenden ist es laut der Studie ebenfalls schlecht bestellt. Demnach verfügen acht von zehn Auszubildenden (79,6 Prozent) über eine geringe psychische Gesundheitskompetenz. Dies trifft auf Auszubildende aus allen sozialen Schichten zu.
»Die Ergebnisse der Studie sind alarmierend«, sagte Orkan Okan, Professor für Health Literacy an der School of Medicine and Health der TU München sowie Leiter des WHO Collaborating Centre for Health Literacy. Jeder fünfte Mensch in Deutschland erkranke im Laufe seines Lebens an einer Depression, informierte der Studienautor. Vor diesem Hintergrund werde psychische Gesundheitskompetenz immer wichtiger. »Die psychische Gesundheitskompetenz muss dringend systematisch und flächendeckend gefördert werden. Wir müssen das zu einem Prioritätsthema machen«, forderte Okan. Wichtig sei, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, zum Beispiel in Schulen. Idealerweise beginne die Förderung der psychischen Gesundheitskompetenz schon früh im Lebensverlauf in den Familien, Kitas und Schulen, setze sich in den Universitäten, Betrieben und den Kommunen fort und berücksichtige auch die digitalen Lebenswelten der Menschen.
Dringenden Handlungsbedarf sieht auch Professor Kai Kolpatzik vom Institut für Digitale Gesundheit – SRH University of Applied Sciences Heidelberg und Chief Scientific Officer des Wort & Bild Verlags. Er kritisierte, dass es in Deutschland keinen offenen Umgang mit psychischen Erkrankungen gebe. Zwar würden sieben von zehn Menschen jemanden kennen, der an einer psychischen Störung erkrankt ist oder selbst davon betroffen ist. Darüber zu reden, sei aber immer noch schambehaftet und tabuisiert. »So braucht es durchschnittlich 8,2 Jahre, bis vom Auftreten der ersten Symptome schließlich professionelle Hilfe in Anspruch genommen wird«, sagte Kolpatzik.
9,5 Millionen Menschen seien mit einer Depression innerhalb eines Jahres in Behandlung gewesen, führte er aus. Volkswirtschaftlich gesehen führte die Erkrankung bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Jahr 2022 zu 53,8 Millionen Arbeitsunfähigkeitstagen und Produktions-Ausfallkosten in Höhe von etwa 6,9 Milliarden Euro. Die Behandlungskosten beliefen sich laut Statistischem Bundesamt auf 9,5 Milliarden Euro. Zudem hätten Menschen mit einer Depression eine um zehn Jahre verkürzte Lebenserwartung.
»Psychische Erkrankungen sind auf dem Vormarsch. Besonders Angststörungen und Depressionen nehmen zu«, bestätigte auch Stephanie Engelmann, Mitglied des Vorstands der KKH Kaufmännischen Krankenkasse. Sie forderte ebenfalls, psychische Belastungen von Stigmatisierungen und Rollenklischees zu befreien.
Handlungsbedarf sieht sie zudem bei der Erreichbarkeit und Wartezeiten auf eine Therapie. Wichtig sei, dass Betroffene mit psychischen Erkrankungen schnell und unkompliziert Hilfe bekämen. »Wir müssen in der Gesellschaft gesunde Verhältnisse schaffen, in denen die psychische Gesundheitskompetenz verbessert werden kann. Das erreichen wir über die Stärkung von Prävention und Selbsthilfe, einer öffentlichen Entstigmatisierung und einer noch effektiveren Versorgung und Betreuung von mental Belasteten und psychisch Erkrankten«, sagte Engelmann.
Die Ergebnisse bestätigen nach Einschätzung der Studienautoren eindrücklich, dass die bisherigen Ansätze zur Verbesserung der psychischen Gesundheit in Deutschland nicht hinreichend sind, sodass neue Lösungswege gefunden werden müssen. »Das Problem ist nun manifest«, resümierte Studienautor Okan.
Doch wie lässt sich gegensteuern? Nach Ansicht von Okan haben alle Gesundheitsberufe die Aufgabe, auf Angebote hinzuweisen und somit die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken. »Auch Apothekenteams können eine positive Haltung zur psychischen Gesundheit vermitteln«, sagte der Wissenschaftler. Wenn sie bei Patienten Anzeichen einer Depression bemerkten, könnten sie diese beispielsweise darauf aufmerksam machen, so der Studienautor.
Kolpatzik sieht Apotheken ebenfalls als gut geeignet an, um Gesundheitskompetenz zu stärken und Menschen mit psychischen Problemen zu unterstützen. So böten Apotheken einen niedrigschwelligen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Rund zwei Millionen Menschen suchten pro Tag eine Offizin auf und ließen sich dort beraten. Untersuchungen hätten zudem gezeigt, dass das Vertrauen in die Beratung durch die Teams in den Vor-Ort-Apotheken groß sei. »Dort können die Ratsuchenden alle Themen ansprechen«, erläuterte Kolpatzik. Dadurch eigneten sich die Teams in den Offizinen auch gut dafür, die Patienten dabei zu unterstützen, mögliche psychische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen.