Gesundheits-ID statt eGK |
Alexander Müller |
09.07.2025 13:42 Uhr |
Beim Parlamentarischen Abend der AOK Plus ging es um die Digitalisierung des Gesundheitswesens. / © PZ
Estland ist das oft zitierte Paradebeispiel erfolgreicher Digitalisierung im Gesundheitswesen. Marika Linntam, Botschafterin der Republik Estland in Berlin, berichtete über die Erfolge in ihrem Heimatland. Estland habe schon 2008 konsequent digitalisiert, heute seien 99 Prozent aller Gesundheitsdaten digital erfasst und vernetzt.
Medizinische Daten der Versicherten stünden überall zur Verfügung, auch im Krankenwagen, so Linntam. Organisatorische Prozesse wie Krankschreibungen seien komplett automatisiert. Die Verwaltungskosten in Estland liegen nur bei rund 1 Prozent. Und die Osteuropäer sind nicht allein: Mit elf Ländern ist Estland mittlerweile vernetzt, Rezepte können grenzüberschreitend eingelöst werden.
Möglich macht das die digitale Identität. In Berlin nutzt Linntam ihre elektronische Gesundheitskarte, wenn sie in Estland ist, einfach ihre »ID-kaart«, ein digitaler Personalausweis, der für alle verpflichtend ist. Damit sei der Durchbruch gelungen, weil ein sicherer, transparenter und kontrollierbarer Zugang geschaffen worden sei. »Digitalisierung funktioniert nur, wenn die Menschen Vertrauen in die Systeme haben«, so Linntam.
Wie mühsam es ist, in Deutschland die Digitalisierung voranzutreiben, davon kann Markus Leyck Dieken als ehemaliger Chef der Gematik ein Lied singen. Heute ist er Partner bei der Agentur »Brückenköpfe«, die sich auf Konzepte und Beteiligungen im Gesundheitswesen fokussiert.
Für Leyck Dieken besteht kein Zweifel, dass sich Deutschland auf das europäische Niveau begeben muss, Grundlage ist der Europäische Gesundheitsdatenraum (EHDS). »Die Franzosen können schon mit fünf Ländern Daten austauschen, wir schaffen es noch nicht einmal mit Österreich.« Kein anderes Land habe noch einen Personalausweis und eine separate GKV-Karte.
Seine Idee: Statt wie in Estland die Gesundheitsdaten mit der elektronischen ID zu verbinden, könnte es in Deutschland andersherum laufen. Die Gesundheits-ID könnte zur Bund-ID werden – mit allen digitalen Funktionen für die Bürgerinnen und Bürger. Ein großer Schritt sei die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA), mit der erstmalig jeder dieselbe Chance und dasselbe Recht habe, dass seine Daten gefunden werden. »Die Opt-Out-Funktion bei der EPA war der Schlüssel für den digitalen Wumms«, so Leyck Dieken mit einem typischen Leyck-Dieken-Satz.
Und so in Fahrt berichtete der Ex-Gematik-Chef von der Einführung des E-Rezepts: »Ich habe mir drei Jahre lang die Fresse polieren lassen.« Mehr als 30 Prozent der Praxen hätten damals noch mit Windows 7 gearbeitet und mussten erst aufgerüstet werden. Und heute: Fast nur noch E-Rezepte und keine nennenswerten Probleme, so Leyck Dieken. Mit der ePA hätten Apotheken, Praxen und Krankenkassen jetzt die Chance, Über- und Fehlversorgung aufzudecken.
Leyck Dieken ist überzeugt, dass alle Gesundheitsberufe mehr beteiligt und vernetzt werden müssen. Ideal sind aus seiner Sicht regionale Pilotprojekte – nur bitte IT-seitig in internationaler Sprache, ohne Regiolekte. Der letzte Leyck-Dieken-Satz galt der neuen Bundesgesundheitsministerin: »Frau Warken hat hoffentlich viele Spinatdosen im Schrank, damit sie das alles durchsetzen kann, was sie vorhat.«
Was die regionalen Pilotprojekte angeht, stimmte der Gastgeber voll zu: Für Stefan Knupfer, Vorstand der AOK Plus, muss die Regionalität im Mittelpunkt stehen, »Versorgung findet regional statt.« Für eine größere Effizienz müssten regionale Ansprüche dann in bundesweiten Lösungen überführt werden, die wiederum in regionaler Ausprägung. Wichtig sei der Wille zur Kooperation mit den Leistungserbringern: »Wir haben nicht den Anspruch, der Steuermann zu sein«, so Knupfer. Bei der Digitalisierung müssten alle »uneitel und mutig« sein und die Interessen der Patienten in den Mittelpunkt stellen.
Ein Grußwort aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) sprach Martin Dietrich. Der Betriebswirt mit dem Schwerpunkt Management des Gesundheitswesens leitet im BMG das Referat »Innovationsfonds und Zukunftsregion digitale Gesundheit«. Dietrich wies auf den Webfehler im deutschen Gesundheitswesen hin: Das Finanzierungssystem der Krankenkassen belohne mit dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) die Behandlung von Krankheiten – statt den Erhalt von Gesundheit. Oder wie Professor Dietrich es ausdrückte: »Gesundheit ist kein funktionsfähiger Erlösträger.«
Echte Versorgungsinnovationen müssten die Versicherten einbeziehen, aus Sicht der Kassen bedarfsgerecht sein und die Leistungserbringer entlasten. »It takes three to Tango«, so Dietrich.
Dem stimmte Johanna Nüsken, Geschäftsführerin Bundesverband Managed Care (BMC), zu: »Wir brauchen eine Digitalisierungsstrategie 2, einen übergeordneten Plan, gemeinsame Ziele und keine Verteilungskämpfe.« Ihr Appell an den Gesetzgeber und die Kassen: »Wenn wir Digitalisierungsleistungen fördern wollen, müssen wir sie auch vergüten. Innovationen brauchen Finanzierung.«