»Gesundheit ist Querschnittaufgabe« |
Paulina Kamm |
11.06.2025 11:02 Uhr |
Christiane Wessel, Andrea Galle, Serdar Yüksel, Nicola Buhlinger-Göpfarth, Ute Teichert und Thomas Preis (von links) besprachen den Ist-Zustand der Gender-Medizin mit Moderator Albrecht Kloepfer. / © Paulina Kamm / PZ
Noch immer ist die Qualität der Gesundheitsversorgung auch von dem Geschlecht der Patientinnen und Patienten abhängig. Christiane Wessel (Kassenärztliche Vereinigung Berlin), Andrea Galle (mkk – meine Krankenkasse), Serdar Yüksel (SPD-Fraktion, AG Gesundheit), Nicola Buhlinger-Göpfarth (Hausärztinnen- und Hausärzteverband), Ute Teichert (Bundesministerium für Gesundheit) und ABDA-Präsident Thomas Preis trafen sich in der vergangenen Woche in Berlin, um den Ist-Zustand der Gender-Medizin aus ihrer jeweiligen Perspektive zu beleuchten.
»Warum mache ich das?«, fragte Andrea Galle in ihren einleitenden Worten und antwortete umgehend mit einem Schulterzucken: »Ich bin eine Frau, ich sage es mal so.« Die Vorständin der mkk (meine krankenkasse) war zur Repräsentation der Krankenkassenperspektive vor Ort.
Im Folgenden erweiterte sie die Begründung ihrer Motivation auf die Gesetzesebene: »Es ist kaum jemandem bewusst: Krankenkassen haben den gesetzlichen Auftrag, geschlechtsspezifische Versorgungsverträge zu schließen«. Dies werde laut der Vorständin leider nicht immer in der Praxis beachtet.
»Augenrollen, was will die jetzt?«, sei die Antwort ihrer männlichen Kollegen gewesen, als Christiane Wessel sich erstmals vor einigen Jahren beim Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung für gendersensible Themen aussprach. Mit dieser häufig auftretenden Reaktion gegenüber Frauen begründete Wessel, warum diversere Teams auf allen Ebenen der Gesundheitsversorgung eingesetzt werden sollten.
Moderator Albrecht Kloepfer witzelte nicht nur über Frauen, die mit Herzinfarkt vor dem Notaufnahmebesuch für die Familie vorkochen, sondern auch über Vorurteile aus gewissen politischen Lagern: »Von geschlechtsspezifischer Versorgung profitieren auch AfD-Männer.«
Doch nicht nur der von vielen Seiten kommende Gegenwind sei ein Problem für den Fortschritt der Gendermedizin. Gerade der Forschung fehlten wichtige Informationen. Andrea Galle kritisierte das Gesundheitsdatennutzungsgesetz und erzählte von einem in der Vergangenheit gescheiterten Forschungsprojekt: »Wir haben keine Möglichkeiten gesehen, wichtige Daten zu nutzen – im Übrigen keine personenbezogenen Daten, das waren anonymisierte Daten – aber wir haben ein Verbot, das direkt so auf den Weg zu geben«, so Galle. Dies trage laut der Vorständin der mkk zur defizitären genderbezogenen Versorgung bei.
Das Thema Doppelbelastung durch Care- und Erwerbsarbeit, unter der immer noch großteils Frauen leiden, wurde an verschiedenen Stellen in die Debatte inkludiert: »Was noch dazukommt, ist, dass die meisten die Anschlussheilbehandlung, die ihnen ja zusteht bei solchen Erkrankungen, oft nicht in Anspruch nehmen, weil sie sagen: ›Ich kann jetzt nicht noch drei Wochen abgemeldet sein, weil ich mich noch um meine Mutter zuhause und um die Kinder kümmern muss; und eigentlich kann ich meine Kolleginnen und Kollegen in der Arbeit auch nicht im Stich lassen‹«, erzählte Serdar Yüksel aus dem Leben vieler Patientinnen mit kardiologischer Krankheitsgeschichte.
Der Bundestagsabgeordnete mahnte, dass fehlende Gelder nicht aus den gesetzlichen Kassen entnommen werden dürfen und betonte mehrfach: »Gesundheit ist eine gesamtgesellschaftliche Querschnittaufgabe«.
»Wir wissen alle, Frauen sind oft die Gesundheitsministerinnen in der Familie« stellte Professorin Buhlinger-Göpfarth fest. Die Gesamtverantwortung der familiären Gesundheit läge immer noch bei den Müttern. Die Hausärztin sah dies als Ressource, um dort mit der Versorgung anzuknüpfen.
»Sozial-psychiatrische Dienste, Versorgung von Menschen, die einen Hilfebedarf haben und die Versorgung von Wohnungslosen – auch da haben wir natürlich das Problem der Geschlechtermedizin und der gendersensiblen Versorgung, das wir ansprechen müssen« ergänzte die Expertin für öffentliche Gesundheit, Ute Teichert.
Thomas Preis erläuterte anhand des Beispiels der Notfallverhütung, dass die Frauengesundheit auch aufgrund finanzieller Probleme gefährdet sei: »Die Gesundheit oder das Nicht-Schwanger-Werden sollte nicht abhängig vom Geldbeutel sein«, so der ABDA-Präsident.
In den verschiedenen Perspektiven der Debatte traten immer wieder die Themen Aus-, Weiter- und Fortbildung auf, bei denen sich die Teilnehmenden weitgehend einig waren. Hinsichtlich der Integration von gendersensiblen Thematiken in die Lehrpläne griff Nicola Buhlinger-Göpfarth vom Hausärztinnen- und Hausärzteverband auf ihre Tätigkeit als Dozentin zurück: »Da sind die privaten und die staatlichen Hochschulen schon weiter als die Universitäten«.
In der weiterführenden Lehre müsse das Geschlecht eine größere Rolle spielen: »Ich bin der Meinung, dass es endlich in der Facharztweiterbildung ankommen muss, weil es einfach so viele Beratungsanlässe tangiert«, so Nicola Buhlinger-Göpfarth. Dem stimmte auch Christiane Wessel von der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin zu und ergänzte: »Wir kämpfen darum, die ärztliche Weiterbildungen zu verändern und uns dort mit einzubringen.«
Thomas Preis ergänzte: »Geschlechterspezifische Arzneimittelversorgung ist noch nicht so strukturiert und etabliert, wie es sein sollte.« , so der ABDA-Präsident. »Ich halte das für sehr wichtig. Bei uns ist ja die Bundesapothekerkammer dafür zuständig und wir werden die darauf hinweisen, dass da mehr Weiterbildungen und Fortbildungen in diesem Bereich kommen«, versprach der ABDA-Präsident.
»Im Moment ist es so, dass wir in Studiengängen der Medizin dem Thema genau vier Semesterstunden widmen und das ist einfach viel zu wenig« ergänzte Serdar Yüksel von der SPD.
Abschließend kamen aus dem Publikum wertvolle Ergänzungen: Tanja Menting vom Universitätsklinikum Bonn sprach sich im Rahmen der Podiumsdiskussion für einen erweiterten Einbezug arbeitsmedizinischer Aspekte in die Gendermedizin aus. Hildegard Seidl, Fachreferentin für Gendermedizin von der München Klinik, betonte, wie wichtig es sei, geschlechterspezifische Forschung und Lehre verpflichtend zu etablieren und vor allem finanziell zu fördern.