Gesunder Ekel oder schon Keimphobie? |
Eine andere Möglichkeit besteht darin, sich bewusst zu machen, dass andere Situationen tatsächlich viel gefährlicher sind als das, wovor ich solche Angst habe. Beispiel Badezimmer. »Am häufigsten im Haushalt sterben Menschen auf nassen Fliesen – aber darüber macht sich kein Mensch einen Kopf, weil man einfach den Eindruck hat, man kann diese Situation kontrollieren«, sagt Wannemüller.
Trotzdem kann es sein, dass Menschen so sehr unter einer Kontaminationsangst leiden, dass sie sich dem hilflos ausgeliefert fühlen. Und dass ihnen auch das ständige »Ausprobieren« keine Linderung bringt. Im Gegenteil: »Sie denken dann, wenn es zehnmal gut gegangen ist, dann wird es beim elften Mal garantiert schiefgehen.«
Die Situation dauerhaft vermeiden zu wollen oder Sicherheitsstrategien gegen die Angst anzuwenden, ist jedenfalls keine Lösung. Wannemüller sagt: »Dadurch wird die phobische Furcht nur aufrechterhalten, weil man keine korrigierenden Erfahrungen mehr machen kann.« Die Grenze zu einem Zwangsproblem ist dann fließend, wenn man außerdem das Bedürfnis entwickelt, sich zum Beispiel ständig »rituell« waschen zu wollen, um die Angst bei Gedanken an mögliche Kontamination zu reduzieren.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte man Expertenrat in Anspruch nehmen. Ebenso dann, wenn ich zwar immer wieder die gefährlichen Situationen provoziere, die Angst jedoch nicht weniger wird. »Dann muss man mit einem Profi überlegen, welche Strategien ich einsetzen kann, um bedrohliche Gedanken und Erwartungen in Expositionsübungen zu reduzieren und Unsicherheit zu tolerieren«, so der Psychologe.
Unterm Strich hat Wannemüller jedoch noch eine positive Nachricht: »Das Gute an diesen situativen Phobien ist, dass sie wirklich wahnsinnig gut behandelbar sind und man sie wirklich gut in den Griff bekommen kann.«
Woran es liegt, dass einige Menschen keinerlei Sorge haben, den Fahrstuhlknopf zu drücken und danach einen Riegel Schokolade aus der Hand zu essen, während andere sich schon bei der bloßen Vorstellung schütteln, kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. »Es gibt mehrere prädisponierende Fakten, und oft ist auch ein Zusammenspiel verantwortlich», erläutert Wannemüller.
Zusätzlich zu einer genetischen, biologischen Veranlagung können auch Sozialisationsfaktoren kommen. Sprich: Aus einer Familie, in der die Eltern unsicher sind und alles tun, um Ängste zu vermeiden, werden auch die Kinder ängstlicher. Und wer als Kind erlebt, dass die Eltern ständig vor oder nach dem Essen zum Feuchttuch greifen, wer aus der Kita kommt und seine Kleidung komplett ausziehen und durch eine Art »Kontaminationsschleuse« muss, der hat womöglich auch als Erwachsener eine besondere Angst vor Bakterien und Viren.
Schließlich kann auch die jeweilige Lebensphase Ängste verstärken: In dem Moment, wenn ich Verluste erfahren habe, wenn sich mein Partner von mir getrennt hat, eine Freundin gestorben ist oder mir im Job gekündigt wurde, reagiere ich oft anders auf potenziell bedrohliche Situationen, als wenn ich in einer guten psychologischen Verfassung bin.