Geschlossener Hilferuf aus Thüringen |
Melanie Höhn |
01.11.2023 13:25 Uhr |
Thüringens Apothekerkammerpräsident Ronald Schreiber und Verbandsvorsitzender Stefan Fink bei der Protestkundgebung der Heilberufe in Erfurt am 1. November 2023. / Foto: PZ/Höhn
Rund 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den Apotheken haben sich am Mittwochmittag vor dem Thüringer Landtag versammelt, die Apothekenteams sind bei der gemeinsamen Demo deutlich in der Überzahl. Nach Polizeiangaben sind insgesamt rund 700 Demonstrierende vor Ort. Laut einer Umfrage des Apothekerverbands wollten neun von zehn Teams mindestens eine Person zur Protestveranstaltung schicken. Zudem haben bei der Umfrage 87 Prozent der Apotheken angegeben, heute vorübergehend oder ganz zu schließen.
Kammerpräsident Ronald Schreiber sagte auf der Bühne: »Seit zehn Jahren rennen wir einer Anpassung der Honorierung hinterher, doch wir bekommen bisher nur warme Worte. Wir fordern dringend eine angepasste Honorierung in Thüringen. Das ist unsere Grundforderung schlechthin.« Vor zehn Jahren habe es noch 583 Apotheken in Thüringen gegeben, heute nur noch 497. »Diese 83 Apotheken fehlen in der flächendeckenden Versorgung. Wir fordern mehr Studienplätze für Pharmazie an der Universität Jena und mehr Ausbildungskapazitäten für PTA«, so Schreiber. Auch mit Blick auf die Lieferengpässe müsse die Politik endlich handeln.
Stefan Fink, Vorsitzender des Thüringer Apothekerverbands, kritisierte am Randes des Protests gegenüber der PZ die aktuelle Lage nach Inkrafttreten des Lieferengpassgesetzes ALBVVG: »Die Bundesregierung hat ein Gesetz erlassen, damit die Bevölkerung einfacher und schneller bei Lieferengpässen versorgt werden kann. Doch durch die Interpretation des Bundesgesundheitsministeriums zu diesem Gesetz werden diese Regeln wieder zurückgenommen und ad absurdum geführt. Und das ist ein Skandal.«
Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner (Die Linke) versprach, sich für die Apotheken einzusetzen: »Wir wissen, dass die Apotheken in immer schwierigere Situationen kommen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz bestimmte Honorierungen wieder zurückgenommen wurden und insgesamt stagniert die Situation, was Honorare angeht, seit vielen Jahren. Auf Bundesebene setzen wir uns dafür ein, dass es dahingehend Veränderungen gibt und auch insgesamt die Situation der wohnortnahen Versorgung und flächendeckenden Apotheke zu stärken.“ Sie glaube nicht, dass Online-Apotheken das leisten können, was wir brauchen: Eine älter werdende Bevölkerung gut zu versorgen, zu beraten und zu unterstützen. Das kann nur die Apotheke vor Ort und deswegen braucht es entsprechende gesetzliche Regularien, damit das weiter gelingen kann.«
Auch vom Land soll es Unterstützung geben: »Die Niederlassungsförderung wird jetzt auch für Apotheken sowie Zahnärztinnen und Zahnärzte in Thüringen geöffnet. Es hängt noch von verschiedenen Dingen ab, die mit dem Landesrechnungshof und dem Finanzministerium besprochen werden müssen, deswegen kann ich noch keine endgültigen Aussagen machen. Was geht, ist jetzt schon Anträge zu stellen, ein vorzeitiger Maßnahmenbeginn wird zugelassen und die Anträge werden rückwirkend zum 1. Januar zugelassen«, so Ministerin Werner.
Die Thüringer Apothekerschaft sowie Ärzte-, Zahnärzte- , und Psychotherapeutenteams haben sich zu dem Protestbündnis »#Gesundheitskollaps« zusammengeschlossen, um gemeinsam auf die schwierige ambulante Situation aufmerksam zu machen. Die wohnortnahe ambulante Versorgung der Menschen in Thüringen sei akut bedroht. Klar ist: In Thüringen wird die Zahl der Apotheken im Freistaat im 13. Jahr in Folge sinken. Seit Jahresbeginn ist die Zahl der Betriebsstätten in Thüringen bereits von 507 auf 496 gefallen.
Während Apotheken und Praxen ein Sparkurs aufgezwungen werde, würden Regierung und gesetzliche Krankenkassen den Bürgerinnen und Bürgern unrealistische Leistungsversprechen unterbreiten und nicht genügend Finanzmittel und Ressourcen zur Verfügung stellen, um den gesetzlich vorgeschriebenen Versorgungsumfang zu erfüllen, heißt es seitens des Protestbündnisses. Im Gegenteil: Die Mittel für die ambulanten Versorger würden trotz aller Hilferufe seit Jahren sogar verknappt und die ambulanten Versorgungsstrukturen damit sehenden Auges zerstört. Die ambulante Versorgung, auf die sich die Menschen millionenfach jeden Tag verlassen, stehe längst vor dem Kollaps. Schon heute würden viele Praxen keinen Nachfolger finden, Neupatientinnen und -Patienten müssten lange nach Ärztinnen und Ärzten suchen, immer mehr Apotheken schließen. Die Bundesregierung breche das mehrfach gegebene Versprechen, die flächendeckende ambulante Versorgung zu stärken und gefährde damit die ambulante Versorgung der Menschen in Thüringen.
Dazu erklärte Verbandschef Fink: »Ein Drittel der Apotheken sind Stand heute in ihrem Bestand wirtschaftlich gefährdet. Elf Prozent schreiben sogar rote Zahlen und sind in ihrer Existenz akut bedroht. Wir fordern eine entsprechende Erhöhung unserer Honorierung für eine auskömmliche Vergütung unserer Leistungen!«
Ulf Zitterbart, Vorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes Thüringen, ergänzte: »Wir fordern eine Reform der Versorgungsstrukturen, eine Förderung der vorhandenen Strukturen und keine neue Zerstückelung durch Gesundheitskioske sowie die Abschaffung sämtlicher Regresse«. Menschen würden beispielsweise in Gera und Umgebung verzweifelt nach ärztlichem Beistand suchen, weil dort 14 Hausärztinnen und Hausärzte fehlen. Dies bedeute, dass etwa 22.000 Menschen keinen Anlaufpunkt für akute und chronische Beschwerden im hausärztlichen Bereich haben. »Wo sonst Hilfe geleistet wird, erfolgen nun Notversorgung, rettungsdienstliche Einsätze oder Zuweisung in überfüllte Krankenhäuser. Wir fordern ein Umdenken der Politik mit Förderung der ambulanten Praxis-Teams, eine am Bedarf orientierte Steuerung der Versorgung und die stärkere Orientierung auf gesundheitliche Primärversorgung«, so Zitterbart.
Auch Denise Lundershausen von der Gemeinschaft Gebietsärztliche Berufsverbände Thüringen machte in ihrer Rede deutlich, dass die Sicherstellung der ambulanten Versorgung der Patientinnen und Patienten in Thüringen »hochgradig auf dem Prüfstein« steht. »Wir können nicht mehr, unsere Kräfte gehen zur Neige. Ich glaube alle wissen: Wir sind am Limit«, kritisierte sie. Viele Kolleginnen und Kollegen hätten keine Lust mehr, »in diesem Hamsterrad« zu arbeiten. »Alle Teams sind hoch motiviert, ihre Arbeit qualitativ hochwertig durchzuführen, aber die Bedingungen demotivieren uns einfach: die rasant steigenden Kosten für Material, Instrumente, Lohn oder die Anforderungen an Hygiene und Medizinprodukte lassen uns in Praxen und Apotheken austrocknen. Die Umsätze können mit den explodierenden Kosten einfach nicht standhalten«, so Lundershausen.
»Wir müssen gegen die geballte Ignoranz von Minister Lauterbach wehren. Eine Ambulantisierung kann nicht funktionieren, wenn sie von der Politik, den Kassen ohne uns Niedergelassene, Apotheken und Zahnärzte gedacht wird. Das riesige Potenzial an Know-How, was wir alle mitbringen, muss genutzt werden. Es kann nicht nur an die Kliniken gedacht werden«, sagte sie. Sie fordert eine sinnvolle Digitalisierung, die Abschaffung der überbordenden Bürokratie, eine adäquate leistungsgerechte Finanzierung und Entbudgetierung, Gesundheitserziehung der Patientinnen und Patienten, Anerkennung und Respekt für die tägliche Arbeit und ein faires Miteinander als gleichberechtigte Partner im Ambulantisierungsprozess zusammen mit den Kliniken. »18 Millionen Behandlungsfälle im Jahr allein in Thüringen im ambulanten Setting sprechen für sich«, so Lundershausen.
Hannelore König, die für die Apothekengewerkschaft Adexa und den Verband medizinischer Fachberufen sprach, kritisierte ebenfalls die Gesundheitspolitik der Bundesregierung. »Es geht so nicht weiter. Statt Stärkung wie im Koalitionsvertrag versprochen, gab es neue Spargesetze, mehr Bürokratie und eine nicht funktionierende Digitalisierung. Wo bleibt sie endlich?«, so König. Aber auch die Landespolitik sei gefragt: »Wir brauchen eine Fachkräftestrategie, die unsere Berufe endlich mehr stärkt und ihnen Perspektiven aufzeigt«, erklärte sie weiter. Knut Karst von der Kassenzahnärztliche Vereinigung betonte die Dringlichkeit von Nachwuchsförderung, der Niederlassungsförderung und der Schaffung von Studienplätzen für Zahnärztinnen und Zahnärzte.
Auch die Landtagsfraktionen äußerten sich am heutigen Mittwoch zur ambulanten Versorgung in Thüringen. Cornelia Klisch, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, führte aus, dass gerade für die kleinen Apotheken mehr getan werden müsse und hat Bundesgesundheitsminister Lauterbach nach Erfurt eingeladen. »Er hat mir zugesagt, dass er im Januar kommen wird, um hier vor Ort in den Praxen und Apotheken ins Gespräch zu kommen«, so Klisch.
Professor Mario Voigt von der CDU-Landtagsfraktion machte zudem deutlich: »Wir wollen Apotheker, Zahnärzte, Niedergelassene, medizinisches Fachpersonal unterstützen und schützen. Es ist Alarmstufe rot, weil es darum geht, Respekt für die medizinische Versorgung in diesem Land zu sichern«, so Voigt. »Bei den Apotheken müssen wir dagegen angehen, dass diese Billig-Filial-Idee ein Ende hat. Das ist der falsche Weg, wir brauchen strukturierte Versorgung für ganz Thüringen. Das, was momentan diskutiert wird, geht am Patienten vorbei.«
Ralf Plötner, gesundheitspolitischer Sprecher der Linksfraktion, betonte, dass es ein Fehler gewesen sei, Medikamentenproduktion auszulagern aus Kostengründen, »es braucht dringend eine europäische Lösung«, sagte er. Apotheken seien ein »sozialer Begegnungsort«, es sei der falsche Weg, in den Versandhandel zu gehen. »Die konkrete Apotheke vor Ort muss erhalten bleiben und weiter gestärkt werden.«
Babette Pfefferlein, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, kritisierte, dass in der Vergangenheit zu wenig in die ambulante Versorgung investiert worden ist. »Gute Gesundheitsversorgung kann nur mit sektorenübergreifender Gesundheitsversorgung funktionieren«, so Pfefferlein. »Wir müssen über Honoraranpassungen in den Apotheken reden. Die Apotheken vor Ort sind gute Berater und sie müssen es auch bleiben. Wir brauchen diese allumfassende Versorgung.«
Der FDP-Landtagsabgeordnete Robert-Martin Montag schätzte in seiner Rede das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) als »Fehler« ein, der die Versorgung verschlechtert habe – »in einer Situation, wo wir vor großen Herausforderungen bei der Organisation einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung stehen.« Es gebe eine Schieflage im Gesundheitswesen, vor allem wegen der Schieflage im Krankenhausbereich. Doch nur auf die Kliniken zu schauen und nicht dafür zu sorgen, dass der ambulante Bereich gleichberechtigter Partner einer guten Gesundheitsversorgung ist, sei ein Fehler und sorge zu Recht für Unmut.