Geschlechtsspezifische Unterschiede beachten |
Annette Rößler |
09.05.2022 11:00 Uhr |
Alte Menschen nehmen oft viele Medikamente ein. Geht es darum, die nicht notwendigen wegzulassen, müssen auch geschlechtsspezifische Aspekte berücksichtigt werden. / Foto: Adobe Stock/berna_namoglu
Bei hochbetagten Patienten mit zahlreichen Vorerkrankungen ist die Medikamentenliste in der Regel sehr lang. Müssen diese Patienten aufgrund akuter Beschwerden stationär aufgenommen werden, bietet das für die behandelnden Ärzte und die betreuenden Krankenhausapotheker eine gute Gelegenheit, die Angemessenheit der einzelnen Medikamente zu überprüfen. Am Sophien- und Hufeland-Klinikum in Weimar arbeiten der Geriater Dr. Henning Gockel und der Apotheker Dr. Dirk Keiner auf diese Weise zusammen. Beim Wissenschaftlichen Kongress des Bundesverbands Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) in Nürnberg machten die beiden am Beispiel des Falls einer multimorbiden 82-jährigen Patientin deutlich, dass dabei neben den verschiedenen Diagnosen auch das Geschlecht des Patienten eine wichtige Rolle spielt.
Beispiel Schlaganfall: Prinzipiell sei bei Frauen ab dem mittleren Alter Hypertonie eine der häufigsten Ursachen für einen Schlaganfall, informierte Keiner. Der Blutdruck müsse daher mindestens zweimal im Jahr kontrolliert und bei Vorliegen einer Hypertonie gut eingestellt werden.
Nach den Wechseljahren komme bei vielen Frauen Vorhofflimmern (VHF) als zusätzlicher Risikofaktor hinzu. »Frauen leiden viel häufiger unter Herzrhythmus-Störungen als Männer«, sagte Keiner. Um das Risiko zu senken, sei bei betagten Patientinnen mit VHF eine Therapie mit einem Gerinnungshemmer, zum Beispiel einem direkten oralen Antikoagulans (DOAK), sehr wichtig.
Liege ein Diabetes vor, wirke sich das bei Frauen stärker auf das Schlaganfallrisiko aus als bei Männern. »Frauen mit Diabetes haben ein um 27 Prozent höheres Schlaganfallrisiko als Männer mit der Stoffwechselerkrankung«, berichtete Keiner. Schlaganfälle seien zudem bei Diabetikern meist schwerer ausgeprägt als bei Stoffwechselgesunden. Eine frühe Diagnose und gute Einstellung eines Diabetes sei daher bei Frauen im höheren Alter ebenfalls von großer Wichtigkeit.
Beispiel Herzinsuffizienz: »Weibliche Patientinnen mit Herzinsuffizienz haben meist eine erhaltene Auswurffraktion (HFpEF), männliche dagegen eine reduzierte (HFrEF)«, sagte Gockel. Das habe auch Konsequenzen für die Therapie. So sei etwa bei HFrEF die intravenöse Gabe von Eisen vorteilhaft, während das bei HFpEF momentan noch unklar sei. Generell seien Anämie und Eisenmangel bei Patienten mit Herzinsuffizienz häufig, und zwar umso häufiger, je stärker ausgeprägt die Erkrankung sei (höhere NYHA-Stadien).
Der Angiotensin-Rezeptor-Neprilysin-Inhibitor (ARNI) Sacubitril/Valsartan (Entresto®) ist nur bei HFrEF zugelassen. Diese Form ist bei Frauen wie erwähnt seltener als die HFpEF. Wenn aber bei einer weiblichen Patientin eine HFrEF vorliege, profitiere sie Gockel zufolge zumeist besonders von der Gabe des ARNI: »Sacubitril/Valsartan scheint bei Frauen mit HFrEF Hospitalisierungen aufgrund der Grunderkrankung besser verhindern zu können als bei Männern.«
Bei der Dosierung von Arzneistoffen sei insbesondere im Alter die geschlechtsabhängig unterschiedliche Körperzusammensetzung zu beachten. Frauen hätten ein höheres Verteilungsvolumen für lipophile Substanzen und ein niedrigeres für hydrophile Wirkstoffe, während es bei Männern umgekehrt sei. »Bei weiblichen Patientinnen werden daher mit hydrophilen Arzneistoffen tendenziell höhere maximale Plasmaspiegel erreicht«, so der Geriater.
Auch mit Blick auf den Metabolismus und die Ausscheidung von Medikamenten gebe es Unterschiede. So arbeite bei Frauen das CYP-Enzym 2D6 meist besser als bei Männern, sodass der Abbau von Arzneistoffen über diesen Weg beschleunigt sei. CYP3A4 sei dagegen bei Männern meist etwas aktiver. Darüber hinaus sei bei betagten Patientinnen die renale Clearance meist schlechter als bei Patienten, sodass Arzneistoffe, die unverändert über die Nieren ausgeschieden werden, akkumulieren könnten.