Gemeinsam handeln für den Pharmastandort Deutschland |
Ev Tebroke |
15.05.2024 18:00 Uhr |
Problemkind Pharmabranche? Der BPI-Vorsitzende Oliver Kirst verlangt von der Politik nun die notwendigen Reformen (Archivbild). / Foto: BPI
Die Gesundheitsbranche steht hierzulande vor großen Herausforderungen: Immer weniger Fachkräfte müssen immer mehr Menschen medizinisch versorgen. Das System ächzt an vielen Stellen. In der Fläche gibt es immer weniger Ärzte und Apotheken. Permanente Lieferengpässe gefährden die Arzneimittelversorgung. Und die Branche krankt an politischer Regulierungsflut und einer überbordenden Bürokratie. Es sind viele Stellschrauben, die neu justiert werden müssen. Dies wurde auch bei der BPI-Hauptversammlung am 14. und 15. Mai in Berlin auf diversen Diskussionspanels deutlich. Im Fokus stand dabei, dass für eine Reform alle gemeinsam an einem Strang ziehen müssen. »Gesundheitsversorgung geht nicht allein«, so das Motto der Veranstaltung.
Dass etwas geschehen muss, ist mittlerweile auch in der Politik angekommen. Sowohl Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) als auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatten gestern bei der Eröffnungsveranstaltung die Bedeutsamkeit der Pharmabranche sowie den Reformdruck unter dem sie steht, hervorgehoben. Doch wo anfangen? Und welche Lösungen braucht es? CDU-Chef Friedrich Merz forderte heute in seiner Rede die Rückkehr zu mehr Selbstverantwortung: »Ruft nicht nach dem Staat!« Dabei ließ er aber die Frage offen, wie etwa die steigenden Gesundheitsbelastungen finanziert werden können, wie die Probleme zu lösen sind.
»Wer soll das zahlen?«, so Anne-Kathrin Klemm, Chefin des BKK-Dachverbands. »Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)?« Das könne nicht die Lösung sein. Sie verstehe zwar den Ruf vieler Leistungserbringer und der Industrie nach wirtschaftlicher Stärkung. »Auch die Apotheker wollen mehr Geld. Und das kann ich sehr gut verstehen.« Und die Ärzte riefen nach Endbudgetierung. »Aber wo soll das Geld herkommen?« Es brauche dringend Reformen. Derzeit verwalte man den »Mangel im Überfluss«. Aus Sicht der Kassenexpertin ist auch eine Reform des Sozialgesetzbuchs (SGB) dringend vonnöten. »Wir müssen das SGB neu schreiben.« Es dürfe in seinen Regulierungen nicht so kleinteilig bleiben.
Es gehe darum, endlich Misstrauen abzubauen, betonte ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening. Die Politik spiele das Misstrauen der einzelnen Akteure gegeneinander brillant aus, stellte sie fest. Hier gelte es einzuhaken: »Wir müssen beginnen, eine Vertrauenskultur zu entwickeln.« Als Beispiel führte sie die gute Zusammenarbeit von Apotheker- und Ärzteschaft im ARMIN-Projekt, der Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen, an. Durch die enge Verzahnung von Arzt und Apotheker gelang es, die Arzneimitteltherapiesicherheit von multimorbiden Patienten massiv zu erhöhen. Laut Overwiening wurde die Sterblichkeitsrate um 16 Prozent gesenkt. Die Politik sei begeistert gewesen von den Ergebnissen und habe gesagt: »Dann macht es doch!« Aber was geschah? Nichts. Die Politik habe keine rechtliche Grundlage geschaffen, kritisierte die ABDA-Präsidentin.
Angesichts der drängenden Probleme in der Versorgung gehe es grundsätzlich darum, kreativ werden zu dürfen, um pragmatisch und im Sinne des Patienten versorgen zu können. Auch beim Thema Lieferengpässe verhindere die Misstrauenskultur eine bessere Handhabe. Als Beispiel nannte sie etwa, dass bei Lieferengpässen die Apotheken nach wie vor nicht ohne Rücksprache mit dem Arzt auf eine andere Darreichungsform des verordneten Präparats ausweichen dürften.
Grundsätzlich betonte Overwiening die wichtige Rolle der stationären Apotheke angesichts ihrer Expertise in der Arzneimittelversorgung. Sie sei wichtige Säulen der Infrastruktur und des sozialen Friedens. Doch dies werde leider zu wenig wertgeschätzt. Die Leistung der Apotheken werde wie »Strom aus der Steckdose« wahrgenommen. Selbstverständlich und immer verfügbar. Angesichts des wirtschaftlichen Drucks und dem daraus resultierenden Trend zu immer mehr Apothekenschließungen steht aus Sicht der Apothekerschaft jedoch die flächendeckende Versorgung mittelfristig auf dem Spiel.
Vertrauen und mehr Wertschätzung in Form von politischen Reformen fordert auch die Pharmaindustrie. »Es braucht einen Paradigmenwechsel und mehr Vertrauen in die pharmazeutischen Unternehmen«, so Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer des BPI. Damit der pharmazeutische Mittelstand wieder besser aufgestellt ist, brauche es etwa endlich ein Ende des seit fast 15 Jahren währenden Preismoratoriums. Neun von zehn Unternehmen hätten hierzulande weniger als 500 Mitarbeiter. Diese Unternehmen seien besonders von den starken Preisregulierungen und dem hohen Kostendruck betroffen. Wenn der Standort Deutschland nicht attraktiver würde, sei es kein Wunder, wenn Unternehmen abwanderten. »BMW produziert hier auch keine Autos mehr, wenn sie hier nicht verkaufen.«
BPI-Chef Oliver Kirst unterstrich ebenfalls den politischen Appell zum Handeln: Die Probleme für den Gesundheitswirtschaftsstandort Deutschland seien der Politik bewusst. »Es kommt jetzt darauf an, in die Umsetzung zu gehen.« Um den Standort zu stärken beziehungsweise die Produktionsbedingungen vor Ort zu erhalten, erwartet er Änderungen etwa im Vergaberecht. Arzneimittel dürften nicht mehr nur als Kostenfaktor gesehen werden. Es brauche eine zwingende Mehrfachvergabe unter Berücksichtigung des Standorts EU. Hier pocht der BPI auf sein sogenanntes 4-3-2-1-Modell: Rabattverträge erst ab vier Marktteilnehmern; mindestens drei müssen einen Zuschlag erhalten; davon müssen zwei von unterschiedliche Lieferanten Wirkstoffe beziehen; und ein bezuschlagter Hersteller muss in der EU produzieren. Darüber hinaus sollten kritische Wirkstoffe gar nicht ausgeschrieben werden dürfen. Diese Änderungen im Vergaberecht seien ein erster richtiger Schritt zur Standortförderung und mehr Versorgungssicherheit.
Iris Plöger, BPI-Mitglied der Hauptgeschäftsführung, betonte zudem – auch mit Blick auf die Überregulierung und die Bürokratielast für die Branche: »Es existieren hierzulande viele gemeinsame Druckpunkte in der Gesundheitswirtschaft, daher gibt es aktuell auch eine hohe Bereitschaft, etwas dagegen zu unternehmen.«
Um wirklich etwas bewegen zu können, bedarf es aber vor allem eins, wie die Ethik-Expertin Alena Buyx betonte: »Es ist viel mehr Gemeinwohlorientierung nötig«, so die Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München. »Niemand gewinnt, wenn das System an die Wand fährt.«