»Frauen leiden überproportional an seltenen Erkrankungen« |
Alexandra Amanatidou |
29.09.2025 16:00 Uhr |
Nadine Großmann, FOP-Patientin, aktiv in Forschung und Patientenorganisationen. / © Henriette Becht Fotografie
Nadine Großmann leidet an der seltenen genetischen Erkrankung Fibrodysplasia Ossificans Progressiva (FOP). Bei dieser Krankheit verwandeln sich Muskeln und Bindegewebe schubweise in Knochen, was die Beweglichkeit massiv einschränkt. Zehn Jahre lang habe sie auf ihre Diagnose gewartet, dreimal wurde sie fälschlicherweise operiert.
»Ich habe sehr häufig Medical Gaslighting erlebt«, sagt sie. Das bedeutet, dass ihre Beschwerden von Ärztinnen und Ärzten nicht ernst genommen wurden. Symptome, die im Rahmen einer FOP-Erkrankung auftreten können, wie etwa eine Kiefersperre, seien von Ärzten als psychosomatisch abgetan worden. Generell hätten sie sehr wenig mit ihr kommuniziert. Auch nach der Diagnose fühlte sie sich allein gelassen. Viele Informationen, beispielsweise zum Thema Familienplanung, erhielt sie aus Gruppen für andere Betroffene.
Großmann gehört zu den rund vier Millionen Menschen in Deutschland, die mit einer seltenen Erkrankung leben. Laut Definition der Europäischen Union müssen nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen von einer Erkrankung betroffen sein, damit sie als selten gilt.
»Frauen leiden überproportional an seltenen Erkrankungen«, sagt Silke Heinemann, Abteilungsleiterin im Bundesgesundheitsministerium (BMG). Eine genaue Zahl der betroffenen Frauen gibt es nicht. Dennoch warten Frauen im Durchschnitt länger auf die Diagnose einer seltenen Erkrankung als Männer, wie die Nichtregierungsorganisation EURORDIS berichtet: Frauen benötigen durchschnittlich 5,4 Jahre, Männer 3,7.
Doch auch nach der Diagnose sehen sich Frauen mit Problemen konfrontiert. »Statt Erleichterung kommen die nächsten Hürden in der Therapie und bei der Versorgung: Es fehlen Ansprechpersonen und gesellschaftliche Akzeptanz, es gibt soziale Isolation und das Gefühl, nicht gesehen zu werden«, sagt Kristina Sokolovic, »Primär biliäre Cholangitis«-Patientin (PBC), in einer Videoansprache. Versorgungsgerechtigkeit dürfe keine Frage des Geschlechts sein.
Heinemann erläutert, dass das Thema seltene Erkrankungen zwar im Koalitionsvertrag thematisiert worden sei, allerdings nicht speziell für Frauen. Es gebe Wissenslücken und Forschungsbedarf, sowohl was die Ursachen als auch die Verläufe der Erkrankungen angehe. Nötig seien mehr Daten, auch zu den unterschiedlichen Lebensphasen von Frauen. »Diese Phasen stellen drei unterschiedlichen Frauen mit unterschiedlichen Bedürfnissen dar. So genau wird bei der Forschung leider nicht hingeschaut, was aber essentiell für die Pharmakogenetik ist«, argumentiert Annette Grüters-Kieslich, die Vorstandsvorsitzende der »Eva Luise und Horst Köhler Stiftung«, die sich für Menschen mit seltenen Erkrankungen einsetzt.
Das Problem betrifft nicht nur seltene Erkrankungen, sondern auch andere, wie das Forum zu Frauengesundheitsstrategien in der D-A-CH-Region im Sommer zeigte. Es gibt Krankheiten, die ausschließlich bei Frauen in den Wechseljahren vorkommen, wie das Broken-Heart-Syndrom oder die Kardiomyopathie. Geschlechtsspezifische Medizin müsse »schnell« vorangetrieben werden, sagt Stefan Schwartze (SPD), Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten. Er habe eine Mitarbeiterin verloren, weil die Symptome ihres Herzinfarkts nicht rechtzeitig erkannt wurden. Frauen und Männer zeigen unterschiedliche Symptome, zum Beispiel Übelkeit, Atemnot, Oberbauchschmerzen, Rücken- und Nackenschmerzen statt starker Brustschmerzen.
Auch Register seien ganz wichtig, um Diagnostik voranzubringen und sollten geschlechtsspezifisch sein, sagt Maja Hempel, Universitätsprofessorin und Leiterin der Genetischen Poliklinik beim Universitätsklinikum Heidelberg. Ein medizinisches Register ist eine systematische, anonymisierte beziehungsweise pseudonymisierte Datensammlung für eine bestimmte Erkrankung.
Nadine Großmann schildert ihre Sicht als Betroffene. Für FOP-Patientinnen und -Patienten gebe es ein internationales Register, in das Betroffene zweimal im Jahr ihre Daten eintragen müssten. Doch das tun zu wenige. »Auch für die Betroffenen muss der Mehrwert klar sein.« Die Daten könnten beispielsweise publiziert werden, um die Verwendung der Daten transparenter zu machen.
Für eine bessere Regulierung bei der Forschung und bei innovativen Lösungen sprach sich Ingeborg Borgheim, Sprecherin der Geschäftsführung des Pharmaunternehmens Takeda, aus. »Innovation ist nur sinnvoll, wenn sie die Menschen erreicht.« Auch die CDU-Abgeordnete Nora Seitz, Berichterstatterin für Seltene Erkrankungen, glaubt: »Wir regulieren uns bis zum Tod und wir stellen die Daten nicht zur Verfügung.«
Für mehr Digitalisierung warb Anne-Kathrin Klemm, Vorständin beim BKK-Dachverband. Denn auch dank der elektronischen Patientenakte (ePA) könnten mehr Daten gesammelt und analysiert werden. So können Warnsignale erkannt und Patientinnen und Patienten rechtzeitig an Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSEs) oder Expertinnen und Experten verwiesen werden. ZSEs sind Anlaufstellen für Betroffene und betreuende Ärztinnen und Ärzte sowohl bei unklaren Diagnosen mit Verdacht auf eine seltene Erkrankung als auch bei gesicherter Diagnose einer seltenen Erkrankung.
»Die Zentren müssen noch ein bisschen lauter werden und mit uns in den Dialog kommen«, sagt Heinemann aus dem BMG. Laut dem Versorgungsatlas für Menschen mit Seltenen Erkrankungen gibt es momentan 36 Zentren in Deutschland. Diese hätten in den vergangenen Jahren große Schritte gemacht und an den meisten Standorten eine Grundfinanzierung bekommen, sagt Corinna Grassamen, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin Mainz. Jedoch sei der personelle Aufwand enorm.
Laut Karin Maag, unparteiisches Mitglied im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), wäre es nicht leistbar, wenn alle Patientinnen und Patienten nur in diesen Zentren behandelt wären. »Wir brauchen auch Ideen, wie die Behandlung aussehen könnte«, sagt sie. Anderer Meinung ist Hempel vom Universitätsklinikum Heidelberg: »Jeden Betroffenen muss der Zugang zu diesen Zentren ermöglicht werden. Somit könnten sie sich das Ärztehopping sparen.«
Frauen mit seltenen Erkrankungen sehen sich nicht nur mit den gesundheitlichen Folgen der Krankheit, sondern auch mit gesellschaftlichen und sozialen Problemen konfrontiert. Zudem können sie von seltenen Erkrankungen nicht nur als Patientinnen, sondern auch als Mütter, Schwestern oder Partnerinnen betroffen sein.
In solchen Fällen müssen sie Pflegearbeit leisten. »Als Pflegeperson werden Frauen oft als hysterische Partnerin wahrgenommen«, so Gertraud Stadler, Leiterin der Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) der Charité. »Familien und Frauen mit seltenen Erkrankungen haben weniger Gesundheitskompetenz. Am wenigsten Ressourcen haben diejenigen, die am meisten betroffen sind«, so Stadler.
Hempel glaubt, dass mehr Frauen in Führungspositionen für mehr Empathie im Gesundheitswesen sorgen könnten. Auch der Kontakt zu anderen Betroffenen könne ermutigend wirken, so Großmann. »Als Frau mit einer seltenen Erkrankung habe ich Resilienz entwickeln müssen.« Immer wieder musste sie für sich und andere Betroffene aufstehen.