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Unipolare Depression

Fit für die Medikationsanalyse

Ein pharmazeutisches Update inklusive Falltraining zum Thema unipolare Depression gab es kürzlich beim Webinar »100 Medikationsanalysen später« von Pharma4u.
Carolin Lang
12.06.2024  14:00 Uhr

Die unipolare Depression ist eine Volkskrankheit. Hierzulande erkranken innerhalb eines Jahres etwa 5,3 Millionen Menschen – Tendenz steigend. Das geht aus der nationalen Versorgungsleitlinie von September 2022 hervor, deren pharmazeutisch relevante Aspekte Dr. Alexander Ravati zum Auftakt des Webinars zusammenfasste.

Für Apotheker bedeutsam sei zunächst die Differenzierung zwischen leichter, mittelgradiger und schwerer Depression, denn danach richte sich die Therapie. Um den Schweregrad gemäß ICD-10 zu bestimmen, würden Haupt- und Zusatzsymptome erfasst und zu einem Score aufaddiert, erklärte der Apotheker. Die drei Hauptsymptome sind depressive Stimmung, Interessen- oder Freudeverlust sowie ein verminderter Antrieb oder eine gesteigerte Ermüdbarkeit. Zusätzlich können beispielsweise ein Verlust des Selbstwertgefühls, Suizidgedanken oder Schlafstörungen auftreten.

Typischerweise verlaufen Depressionen episodisch. Eine Episode dauere im Schnitt etwa sechs Monate, schilderte Ravati. Die Episoden können vollständig oder unvollständig remittieren, rezidivieren oder auch chronifizieren.

Wann wird medikamentös therapiert?

Bei erstmaligen und leichten akuten Episoden sollen Antidepressiva laut Leitlinie nicht vor niedrigintensiven Interventionen eingesetzt werden. Sie kommen eher bei Nichtansprechen sowie bei rezidivierenden depressiven Episoden als Alternative zur Psychotherapie infrage.

Anders sieht es bei mittelgradigen und schweren Depressionen – zusammenfassend als Major Depression bezeichnet – aus. »Hier ist ‚watchful waitung‘ nicht Mittel der Wahl«, stellte Ravati klar, »hier muss gehandelt werden.« Bei schweren Depressionen ist unmittelbar eine medikamentöse Therapie kombiniert mit einer Psychotherapie empfohlen. Bei akuten mittelschweren depressiven Episoden gibt es für beide Maßnahmen eine gleichwertige Empfehlung. Generell sollten, um die Chancen auf einen Therapieerfolg zu erhöhen, Therapieziele individuell und gemeinsam mit dem Patienten »partizipativ« festgelegt werden.

Die Behandlung wird dann in drei Phasen gegliedert: Sie beginnt mit der Akuttherapie bis zur Remission, »das heißt, bis zum Verschwinden der Symptomatik«, erläuterte Ravati. Darauf folgt die Erhaltungstherapie. Um einen Rückfall zu verhindern, sei diese für sechs bis zwölf Monate obligatorisch. Sofern keine Rezidivprophylaxe indiziert ist, wird die Medikation anschließend ausgeschlichen.

Und wie? Enthält die jeweilige Fachinformation keine Vorgaben zum Absetzen des Antidepressivums, kann laut Ravati folgende allgemeine Faustregel angewendet werden:

  • Absetzen über mindestens 10 Prozent der Einnahmedauer (in der Regel aber maximal drei Monate) und
  • Dosisreduktion um ≤ 50 Prozent.

Eine generelle Ausnahme: Arzneimittel mit sehr langer Halbwertszeit wie Fluoxetin (HWZ: 7 Tage) oder Amiodaron (HWZ: 48 Tage) »schleichen sich von selbst aus, hier wird schneller oder abrupt abgesetzt«, erklärte Ravati.

Antidepressivum auswählen

Bei der Auswahl eines Antidepressivums sollten laut Leitlinie neben der Verfügbarkeit, der Handhabbarkeit, den Komorbiditäten und der Komedikation auch die Präferenzen des Patienten berücksichtigt werden. Bevorzugt er eine bestimmte Darreichungsform? Wie steht es um die Akzeptanz des Nebenwirkungsprofils? Gibt es Anwendungserfahrungen?

In puncto Sicherheit sei das Suizidrisiko zu bedenken, betonte Ravati. So bestehe etwa bei SSRI oder SNRI das Risiko, eine Suizidalität initial zu verstärken. »SSRI sind teilweise antriebssteigernd, zum Beispiel Paroxetin«, erläuterte Ravati. Setze diese Wirkung vor der stimmungsaufhellenden ein, bestehe in der Anfangsphase gerade bei Patienten unter 25 Jahren ein erhöhtes Suizidrisiko. Trizyklische Antidepressiva hingegen bergen die Gefahr einer letalen Überdosierung.

Wesentlich sei außerdem, ob der Patient auf das Antidepressivum anspricht. »Bis zu einem klinischen Ansprechen dauert es typischerweise zwei bis vier Wochen«, erinnerte Ravati. »Wenn in den ersten vier Wochen keinerlei Wirkung vorhanden ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Medikament später noch wirkt, sehr niedrig«, stellte er klar.

Vorgehen bei Nichtansprechen

Bei Unwirksamkeit einer medikamentösen Therapie seien zunächst mögliche Ursachen wie mangelnde Adhärenz oder eine depressiogene Komedikation zu evaluieren. Anschließend komme ergänzend eine Psychotherapie infrage oder medikamentös die Kombination mit einem Antipsychotikum, Lithium oder einem zweiten Antidepressivum. Eine Dosiserhöhung sei bei Serumspiegeln im therapeutischen Bereich nicht die Lösung.

Als »fragwürdig« bezeichnete Ravati den Wechsel auf ein anderes Antidepressivum. Maximal einmal und nur als letzte Maßnahme könne laut aktueller Leitlinie bei Nichtansprechen innerhalb der gleichen depressiven Episode auf ein Antidepressivum mit einem anderen Wirkmechanismus gewechselt werden. Dann sollte eine schrittweise Aufdosierung des neuen und ein ausschleichendes Absetzen des alten Antidepressivums erfolgen, erklärte er.

Fallbeispiel

Im zweiten Teil des Seminars ging es ins Falltraining. Vorgestellt wurde eine 70-jährige Patientin, die unter posttraumatischen Depressionen mit Agitiertheit, Unruhe mit Insomnie und Vorhofflimmern litt. Sie klagte über Tagesmüdigkeit, Schwäche und Mundtrockenheit. Ihr Blutdruck lag mit 130/78 mmHg im Normbereich und ihr Body-Mass-Index bei 30 kg/m². Ihre Dauermedikation setzte sich wie folgt zusammen:

Arzneimittel Dosierung Indikation
Sertralin 100 mg (1-0-0-0) Posttraumatische Belastungsstörung
Mirtazapin 30 mg (1-0-0-0) Major Depression (Episode)
Chlorprothixen 50 mg (0-0-1-0) Agitiertheit bei psychotischer Störung
Pregabalin 25 mg (1-0-0-0) Angststörung

Aufgrund nächtlicher Schlafprobleme erhielt sie zur Kurzzeitmedikation außerdem Lorazepam 2,5 mg (0-0-0-1). Die Medikation war ursprünglich stationär nach einem Trauma angesetzt worden.

Wie lässt sich die Medikation optimieren?

Die akuten Beschwerden der Patientin – Müdigkeit, Schwäche und Mundtrockenheit – könnten Nebenwirkungen der Psychopharmaka sein, vermuteten die Teilnehmenden des Seminars. Da diese bei einer Medikationsanalyse immer besonders im Fokus stehen sollten, wie Ravati nachdrücklich erinnerte, hielten die Teilnehmenden es für besonders drängend, Anzahl und Dosierung der Psychopharmaka in der mittlerweile ambulanten Behandlung zu überprüfen.

Als potenzielle »Streichkandidaten« wurden insbesondere Chlorprothixen und Lorazepam ausgemacht. Beide Arzneistoffe könnten zur Müdigkeit, Chlorprothixen außerdem zur Mundtrockenheit beitragen und gelten gemäß PRISCUS-Liste als potenziell inadäquat für geriatrische Patienten. Chlorprothixen trage darüber hinaus zu einem insgesamt moderat erhöhten Risiko für Torsade-de-pointes-Arrhythmien durch Verlängerung der QT-Zeit bei. Auch die Eigenschaften der Patientin, also ihr Alter über 65, ihr weibliches Geschlecht und das Vorhofflimmern spielten hier hinein.

Als leicht umzusetzende Anpassung wurde vorgeschlagen, Mirtazapin aufgrund der sedierenden Wirkung zur Nacht statt morgens einzunehmen. Außerdem hielten die Teilnehmenden es für wichtig, zu überprüfen, warum das Vorhofflimmern nicht medikamentös therapiert wurde.

Die ärztliche Sicht

Dieser letztgenannte Punkt hatte für die Allgemeinärztin Dr. Annegret Fröbel die höchste Priorität, »um das Risiko der Patientin, einen Schlaganfall zu erleiden, zu reduzieren«, begründete sie. Die psychiatrische Therapie hielt sie für extrem »komplex, umfänglich und wirr« und stellte infrage, dass diese ursprünglich so von einem einzelnen Arzt initiiert wurde. Eine Umstellung sei womöglich sinnvoll, der Prozess jedoch langwierig, betonte sie.

»Mirtazapin macht nur am Abend Sinn«, stimmte sie dem Vorschlag der Teilnehmenden zu. Auch die Gabe von Pregabalin und Chlorprothixen sei zu überdenken. Bei Lorazepam sei zu prüfen, wie lange der Arzneistoff schon eingenommen wurde – Stichwort Abhängigkeit. Diese könnte ein Absetzen möglicherweise verkomplizieren.

»Depressionen kann man heute gut behandeln«, schloss Fröbel. Dies könne man Patienten immer mitgeben, sagte sie. »Ich kann nur ermutigen, das Thema in die Hand zu nehmen. Die Patienten profitieren ganz erheblich«, appellierte Ravati abschließend.

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