Farbenprächtiger Seelenschmeichler |
Ein Herbstspaziergang im Wald erfrischt Körper und Geist. / Foto: Adobe Stock/J.M. Image Factory
Hierzulande wird das »Waldbaden« mitunter noch mit einem spöttisch-skeptischen Lächeln bedacht. Im Erfinder-Land Japan zählt das sogenannte »Shinrin Yoku« jedoch zu einer effektiven Stress-Management-Methode und ist fester Bestandteil des staatlichen Gesundheitssystems. Dort gibt es Waldbaden sogar auf Rezept. Und seit 2012 können sich Studierende an japanischen Universitäten fachärztlich in »Waldmedizin« spezialisieren.
Doch auch hier hat in den vergangenen Jahren ein gewisses Umdenken stattgefunden; immer mehr Studien zeigen, wie wichtig die Natur und der Wald für unser Wohlergehen in der heutigen stressigen, schnelllebigen Zeit sind. Seit 2018 gibt es etwa Europas ersten ausgewiesenen Kur- und Heilwald auf der Insel Usedom. Immer mehr Angebote sind mittlerweile in Deutschland zu haben – mit seinen knapp 12 Millionen Hektar Wald immerhin eines der baumreichsten Länder der Europäischen Union.
Auch das Immanuel Krankenhaus in Berlin, eines der Lehrkrankenhäuser der Charité, hat einen Waldbadepfad direkt am Berliner Wannsee angelegt. »Im Gegensatz zum bloßen Spaziergang im Wald geht es beim Waldbaden um das Eintauchen in die Atmosphäre des Waldes, das heißt das aktiv praktizierte, stark entschleunigte Naturerleben. Beispielsweise beinhaltet eine Übung, den Fokus für eine gewisse Zeit auf das Hören zu lenken. Eine andere Übung ist das langsame Gehen im Wald mit offenen Sinnen. Allen Übungen gemein ist, entschleunigt die Natur wahrzunehmen«, erklärt Dr. Michael Jeitler, Studienarzt und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Charité Hochschulambulanz für Naturheilkunde am Immanuel-Krankenhaus Berlin, die Methoden des Waldbadens.
»Wir wissen mittlerweile, dass strukturierte Waldaufenthalte psychisch stabilisierende, stimmungsaufhellende und antidepressive Effekte haben. Diese scheinen nicht aus der Bewegung allein, sondern auch aus der Stressreduktion und Entschleunigung zu resultieren. Bisherige Daten legen nahe, dass einzelne Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hören, Riechen und auch Tasten jeweils eigenständige stressreduzierende und regenerierende Effekte haben«, wird Jeitler auf der Homepage der Klinik anlässlich des Internationalen Tages des Waldes am 21. März 2022 zitiert.
Es ist nicht allein die Ruhe und Einsamkeit, weshalb sich die meisten nach einem Waldspaziergang so erfrischt, ausgeruht und gestärkt fühlen. Es liegt nämlich etwas in der Waldluft, dass das Stresslevel senkt und die Stimmung hebt. Im Vergleich zur Stadt ist die Luft zwischen den Bäumen nicht nur um 99 Prozent weniger mit Feinstaub belastet, sondern es liegt noch etwas anderes in der Luft: Terpene. Bereits gegen Ende des ausgehenden 20. Jahrhunderts erregten diese organischen würzig riechenden Verbindungen das Interesse von Professor Dr. Qing Li von der Nippon Medical School in Tokio, dem Vater der Waldmedizin.
Terpene sind eine Gruppe von rund 8000 verschiedenen Duftstoffen, die in besonderem Maße Kiefern, Fichten und Tannen absondern. Terpene dienen Bäumen unter anderem als eine Art Kommunikationsmittel, etwa um Artgenossen vor gefräßigen Insekten zu warnen. Sie haben aber auch einen Einfluss auf den Menschen, wenn sie bei einem Waldspaziergang über die Atmung oder die Haut aufgenommen werden.
»Terpene sind die größte Klasse organischer Verbindungen, die von verschiedenen Pflanzen und Bäumen produziert werden, und einer der Hauptbestandteile von Waldaerosolen. Aus medizinischer Sicht sind die Terpene von Fichten, Kiefern und Tannen am wirkungsvollsten. Terpene bilden den Hauptbestandteil von ätherischen Pflanzenölen. Traditionell werden terpenhaltige Pflanzenöle zur Behandlung verschiedener Krankheiten eingesetzt, ohne dass die genauen Funktionen oder Wirkmechanismen der einzelnen bioaktiven Verbindungen bekannt sind. Beschrieben sind verschiedene Terpene aus Wäldern, die in Tiermodellen entzündungshemmende, krebshemmende, Immunsystem stärkende und Nerven schützende Wirkungen gezeigt haben«, erläutert Jeitler.
Interessant: Dass der Herbst Einzug hält, bemerkt auch unsere Nase. Grund ist eine bizyklische Verbindung namens Geosmin mit typisch erdig-muffigem Geruch. Dieser Duftstoff wird von Mikroorganismen abgesondert, vor allem Streptomyces-Arten, die im Boden leben – allerdings nur, wenn die Luft feucht ist. Bei Trockenheit ist sie nicht zu riechen. Wird die Luft in Herbst und Winter feuchter, fahren die Bakterien ihren Stoffwechsel hoch. Fallen Tropfen, wird Geosmin aus dem Boden aufgewirbelt und steigt in unsere Nase. Diese reagiert darauf hochsensibel. Sie kann bereits ein Molekül Geosmin unter eine Milliarde Luftteilchen wahrnehmen (Geruchsschwelle liegt bei 0,1ppm).
Der japanische Mediziner Li konnte nachweisen, dass die Zahl und Aktivität der natürlichen Killerzellen im Blut schon nach einem Tag im Wald beachtlich ansteigen. Wer einen Tag lang Waldatmosphäre in sich aufnimmt, hat anschließend, so zeigt eine Studie, fast 40 Prozent mehr Killerzellen im Blut — und dieser Effekt hält etwa eine Woche an. Verbringt jemand zwei Tage im Wald, steigert sich die Zahl seiner Killerzellen sogar um 100 Prozent, und es dauert einen ganzen Monat, bis das Niveau wieder sinkt.
Der Wald kann noch mehr, wie unter anderem Untersuchungen der Universität Wien und zeigen. Bei einem Spaziergang unter Bäumen schlägt nämlich das Herz ruhiger, der Blutdruck sinkt, die Menge an Stresshormonen geht zurück und die Muskeln entspannen sich. Eine Untersuchung aus China belegt einen ähnlichen Effekt: Hochbetagte Menschen über 80 Jahre hatten seltener Bluthochdruck, wenn sie in der Nähe von Grünflächen lebten und sich häufig in der Natur aufhielten. Dazu passen Ergebnisse eines Teams von Wissenschaftlern an der Universität Chicago: Je mehr Bäume in einer Wohngegend stehen, desto seltener entwickeln die Bewohner Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck oder Diabetes. Dazu glichen die Forscher Gesundheitsdaten mit der Baumdichte eines bestimmten Häuserblocks im kanadischen Toronto ab. Demnach sank das biologische Alter der Bewohner um sieben Jahre, wenn sie rund zehn Bäume mehr in ihrer Nachbarschaft hatten.
Schon zehn Minuten in der Natur – egal ob Wald, Wiese oder Park – mindern Stress und verbessern Stimmung sowie Konzentration. Das zeigte eine Studie aus den USA mit Schülern und Studenten. Eine weitere interessante Erkenntnis zur Auswirkung von Bäumen auf die Psyche haben Wissenschaftler aus Leipzig gewonnen. Menschen, die weniger als 100 Meter von mindestens einem Baum entfernt leben, leiden statistisch gesehen seltener an Depressionen.