Ethische Konflikte im Apothekeralltag |
Lukas Brockfeld |
25.10.2024 13:00 Uhr |
Immer wieder kommen Apothekerinnen und Apotheker in Situationen, die sie als sehr belastend empfinden. / © Getty Images/nicoletaionescu
Apothekerinnen und Apotheker erleben in ihrem Arbeitsalltag immer wieder Situationen, die sie vor ethische Dilemmata stellen; beispielsweise, wenn Patienten Medikamente missbrauchen oder ein Lieferengpass dafür sorgt, dass ein dringend benötigtes Arzneimittel nicht abgegeben werden kann.
Trotz seiner Dringlichkeit wurde bisher nur wenig zu dem Thema geforscht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Leipzig und der Universität Halle-Wittenberg haben daher 535 Apothekerinnen und Apotheker online befragt.
Für die Studie wurden 15 typische Situationen entworfen, die einen ethischen Konflikt mit sich bringen. Die Szenarien beinhalteten beispielsweise einen Patienten, der eine wichtige Information nicht versteht, oder einen Kunden, der nach einem eigentlich nicht notwendigen OTC-Arzneimittel verlangt. Die Teilnehmenden der Befragung wurden gebeten, die Situationen in Bezug auf die Häufigkeit und die empfundene Belastung zu bewerten.
Bei der Auswertung der Online-Fragebögen zeigte sich, dass sieben der vorab definierten ethischen Konflikte bei den Befragten im Durchschnitt mindestens einmal pro Woche auftraten. Das häufigste Dilemma war demnach, dass das von der Krankenkasse erstattete Rabattarzneimittel aus pharmazeutischer Sicht nicht am besten zur Therapie geeignet war. Am zweithäufigsten klagten die Apothekerinnen und Apotheker darüber, dass sie aufgrund von Lieferengpässen auf weniger geeignete Alternativen ausweichen mussten. Der dritthäufigste Konflikt war ein formaler Fehler in einer Verschreibung, der eine Rücksprache mit dem Arzt erforderte, der allerdings nicht erreichbar war.
Das Bewältigen der genannten Probleme wird von den Apothekerinnen und Apothekern oft als belastend beschrieben. So sagten 20,6 Prozent der Befragten, dass sie es als »schwere« oder »sehr schwere Belastung« empfänden, wenn das von der Krankenkasse erstattete Rabattarzneimittel nicht das am besten geeignetste sei. Probleme mit fehlerhaften Verschreibungen empfinden 37,6 Prozent als sehr schwere oder schwere Belastung.
Die größten Sorgen machten sich Apothekerinnen und Apotheker, wenn ein Medikament die Gesundheit eines ungeborenen Kindes beeinflussen könnte. Eine entsprechende Situation wurde von 54 Prozent der Befragten als schwere oder sehr schwere Belastung beschrieben. Als weit weniger problematisch wird es empfunden, wenn Patienten nach unnötigen OTC-Produkten verlangten. Eine solche Situation wurde nur von 3,7 Prozent der Befragten als schwere oder sehr schwere Belastung beschrieben.
Die Befragten wurden außerdem gebeten zu beschreiben, wie sie mit den schwierigen Situationen umgingen. Dabei zeigte sich, dass drei Überlegungen bevorzugt bei ethischen Konflikten einbezogen werden: pharmazeutisches Wissen, rechtliche Anforderungen und persönliche Wertvorstellungen. »Das beinhaltet ethische Konflikte und Herausforderungen, bei denen Abwägungen zwischen unterschiedlichen Werten beziehungsweise Normen getroffen werden müssen«, erläutert der an der Studie beteiligte Medizinethiker Professor Jan Schildmann von der Universitätsmedizin Halle.
Die Studie zeigte auch, dass sich viele Apothekerinnen und Apotheker nur unzureichend auf den Umgang mit entsprechenden Konfliktsituationen vorbereitet fühlen. So gaben 63,7 Prozent der Befragten an, dass sie bisher keine Aus-oder Weiterbildung bezüglich Ethik absolviert haben. 25,4 Prozent der Befragten lernten im Studium über das Thema, 5,6 Prozent in Weiterbildungen und 11,8 Prozent haben sich privat damit befasst. Es überrascht also wenig, dass sich 83,9 Prozent der Apothekerinnen und Apotheker mehr entsprechende Ausbildungsinhalte wünschen.
Auch die Autoren der Studie kommen zu dem Fazit, dass ethische Fragestellungen eine stärkere Rolle in der Aus- und Weiterbildung von Apothekern spielen sollten. Schließlich seien entsprechende Konflikte Alltag in den Offizinen und würden oft als große Belastung empfunden.
Doch es fehlen nicht nur Ausbildungsinhalte, sondern auch Richtlinien und Vorgaben. Der Hagener Apotheker Christian Fehske wandte sich deswegen im vergangenen Jahr an den Deutschen Ethikrat. Der Approbierte hatte gerade infolge der Corona-Pandemie immer wieder mit fehlenden Medikamenten zu kämpfen und musste oft priorisieren, welcher Patient beispielsweise ein bestimmtes Antibiotikum bekommen konnte. »Wir hatten teilweise Wartelisten und ich habe mich gefühlt wie bei der Organvergabe. Es gab immer wieder Patienten, die mir geschildert haben, warum sie unbedingt oben auf der Liste stehen müssten«, erzählt Fehske im Gespräch mit der PZ.
In seinem Schreiben an den Ethikrat schildert der Apotheker die Lage wie folgt: »In der Krise der Arzneimittelknappheiten nehme ich bedauerlicherweise widersprüchliche Empfehlungen wahr und erlebe als Apotheker Verhaltensweisen, die ich als unsolidarisch empfinde. Wenn Patienten ihre Ärzte um Rezepte im Voraus bitten, erweckt das den Anschein egoistischen Hamster-Verhaltens. Gleichzeitig sind widersprüchliche öffentliche Empfehlungen zu eben solchem Arzneimittelhamstern in meinen Augen geeignet, die Bevölkerung in einer ohnehin angespannten Lage zu verunsichern.«
Vom Ethikrat wünscht Fehske sich daher Richtlinien, die ihm und anderen Apothekerinnen und Apothekern in schwierigen Situationen weiterhelfen: »Ohne eine abgestimmte, allgemeine Orientierung zum Umgang mit knappen Arzneimitteln, wie es sie in anderen Situationen mit Priorisierungen und Kontingentierungen beispielsweise bei Covid-19-Impfstoffen gegeben hat, gibt es für Apothekenmitarbeitende ein reales Risiko, eine Arzneimittel-Triage in der Apotheke durchführen zu müssen, wem nämlich ein knappes Arzneimittel abgegeben wird, und wem nicht«, heißt es in dem Schreiben.
Leider habe er selbst entsprechende Situationen schon mehrfach erlebt. »Ohne allgemein akzeptierte Priorisierungen finden diese inoffiziell statt – etwa wenn mich Lungenfachärzte bitten, für ihre Patienten als kritisch eingeschätzte Antibiotika nicht mehr an die Patienten anderer Ärzte für ›harmlose Blaseninfektionen‹ abzugeben«, erläutert der Apotheker. Er habe auch schon erleben müssen, dass verzweifelte Patienten ihm Geld für die letzte Packung eines Medikamentes geboten hätten.
Leider habe er bis heute keine Reaktion auf sein im September 2023 versandtes Schreiben erhalten. »Wir brauchen einfach eine grobe Orientierung. Ich wünsche mir, dass sich der Ethikrat mit der Situation der Apotheken beschäftigt«, so Fehske.