Es kommt noch dünner |
Daniela Hüttemann |
31.03.2023 16:30 Uhr |
20 bis 30 Prozent Gewichtsverlust vom ursprünglichen Körpergewicht sind mit den neuen Adipositas-Medikamenten möglich. Allerdings handelt es sich um Peptidmoleküle, die gespritzt werden müssen. Orale Arzneiformen sind aber nicht undenkbar. / Foto: Getty Images/Peter Dazeley
Glucagon-Like-Peptid-1-Agonisten wie Liraglutid (Saxenda®) und Semaglutid (Ozempic®) wurden als Antidiabetika entwickelt, da sie helfen, Appetit- und Blutzucker zu regulieren und den Langzeitblutzuckerwert HbA1c zu senken. Sie führen in der Regel auch zu einer deutlichen Gewichtsabnahme und eignen sich daher besonders für übergewichtige bis adipöse Menschen mit Typ-2-Diabetes. 2021 in den USA und Anfang 2022 in der EU wurde Semaglutid als erster GLP-1-Agonist für die Behandlung adipöser Menschen (Body-Mass-Index über 30 kg/m2) ohne Diabetes zugelassen, allerdings in höherer Dosierung und unter dem Namen Wegovy®.
Seitdem ist ein Hype um Semaglutid entstanden, denn den Studiendaten zufolge purzeln die Pfunde nur so. Ein Drittel der Probanden verlor mehr als 20 Prozent des ursprünglichen Körpergewichts, mehr als zwei Drittel schafften mindestens 10 Prozent. Damit sei aber noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht, erklärte der Diabetes- und Adipositas-Experte Professor Dr. Matthias Tschöp, Geschäftsführer vom Helmholtz-Zentrum München, beim diesjährigen Paul-Martini-Workshop. Als Wissenschaftler hat er die sogenannten Polyagonisten der Darmhormone sowie das »Hungerhormon« Ghrelin mitentdeckt.
Apotheker kennen bereits den Hype um Semaglutid: Als Abnehmmittel Wegovy® ist es in Deutschland noch nicht verfügbar, da Hersteller Novo Nordisk derzeit mit der Produktion nicht die weltweite Nachfrage decken kann. Denn Prominente und Influencer pushen die Nachfrage, selbst Normalgewichtige mit Abnehmwunsch wünschen sich eine Off-Label-Verschreibung. Daher besteht schon seit einigen Monaten ein Lieferengpass auch für Ozempic® für Diabetiker. Diabetologen in Deutschland und den USA beklagen eine gefährdete Versorgung für ihre Patienten. Die Lieferengpass-Meldung wurde erst vor einer Woche verlängert.
Spannend ist auch die Erstattungsfrage: Bislang wurden Medikamente zum Abnehmen in Deutschland als Lifestyle eingestuft und waren damit nicht erstattungsfähig. Mediziner sind sich jedoch weitgehend einig, dass es sich bei Adipositas eindeutig um eine behandlungsbedürftige Erkrankung handelt. Experte Tschöp vom Helmholtz-Zentrum München sprach sogar von Adipositas als einer Hirnerkrankung, da hier die Stoffwechselsignale gestört sind.
Wie die Nachrichtenagentur Reuters diese Woche meldete, will nun die Weltgesundheitsorganisation WHO aufgrund der Adipositas-Pandemie sogar Liraglutid zum Abnehmen auf die Liste unentbehrlicher Medikamente aufnehmen.
Mit Tirzepatid (Mounjaro®) ist bereits seit September 2022 der erste Polyagonist zugelassen, allerdings nicht als Adipositasmittel, sondern als Antidiabetikum. In Deutschland wurde es noch nicht in den Markt eingeführt. Das Molekül wirkt nicht nur als GLP-1-, sondern auch als GIP-Agonist. GIP steht für das Gastrische Inhibitorische Polypeptid. Damit wird Tirzepatid als dualer GLP-1- und GIP-Agonist bezeichnet und ist eine Weiterentwicklung der GLP-1-Agonisten.
Mit diesem Medikament verloren die Teilnehmer klinischer Studien im Schnitt 23 Prozent des ursprünglichen Körpergewichts, berichtete Tschöp. »Das solche Gewichtsverluste medikamentös erreichbar sind, hätten wir uns früher nicht träumen lassen«, so der Arzt und Wissenschaftler mit Blick auf die Entdeckung der meisten Appetit-regulierenden Hormone in den 1990er-Jahren. Die Zulassung von Tirzepatid als reines Adipositasmittel wird von Experten erwartet – und mit ihm Umsätze von bis zu 25 Milliarden Euro pro Jahr.
Wie Hersteller Lilly der Pharmazeutischen Zeitung auf Nachfrage mitteilt, plant das Unternehmen die Markteinführung von Tirzepatid in der Indikation Typ-2-Diabetes in der zweiten Hälfte dieses Jahres. Den Zulassungsantrag für die Indikation Adipositas habe Lilly im März bei der EMA gestellt. Auf die Frage zur Lieferfähigkeit teilte Lilly uns mit:
»Wir werden Tirzepatid erst in Deutschland auf den Markt bringen, wenn wir auch eine dauerhafte Versorgung der Patientinnen und Patienten gewährleisten können. Dazu bauen wir unsere Produktionskapazitäten aus und errichten derzeit mehrere neue Produktionsstätten, um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden. Wichtig ist natürlich, dass unsere Medikamente nur für die zugelassene Indikation eingesetzt werden und damit den Menschen zur Verfügung stehen, die sie benötigen.«
Relativ weit in der Entwicklung ist auch eine andere Art von dualen Agonisten: Sie stimulieren nicht GLP-1 und GIP, sondern GLP-1 und Glucagon. Mindestens fünf solcher Moleküle befinden sich in der klinischen Phase II, darunter Cotadutid von Astra-Zeneca, Efinopegdutid von Hami und BI456906 von Boehringer Ingelheim und Zealand Pharma.
»Die nächste Stufe sind dann die Triple-Agonisten, die GLP-1, GIP und Glucagon stimulieren – sie wirken im Tiermodell noch einmal besser als die dualen Agonisten und führen zu einem noch schnelleren Gewichtsverlust«, berichtete Tschöp. Auch erste klinische Daten gebe es schon.
Im Dezember 2022 kündigte das Pharmaunternehmen Lilly an, 2023 eine Phase-III-Studie mit dem sogenannten GGG-Tri-Agonisten Retatrudid beginnen zu wollen. Die Phase-II-Daten sollen im Juni präsentiert werden. Gewichtsverluste bis zu 30 Prozent seien denkbar. »Wir erreichen nun mit Medikamenten Ergebnisse, die bislang nur mit Magen-Bypass möglich waren«, ordnete Tschöp ein.
Eine weitere klinische Entwicklung stellte Privatdozent Dr. Timo Müller, ebenfalls vom Helmholtz-Zentrum München, vor. Er arbeitet an einem Ansatz, bei dem GLP-1 nur als Eintrittskarte für GLP-1-rezeptorpositive Zellen genutzt wird. An das GLP-1 koppelten die Helmholtz-Forschenden verschiedene small molecules mit Hormonwirkung, die im Zellkern positive Stoffwechselwege anstoßen sollen, zum Beispiel Estrogen und Tesaglitazar. Das GLP-1-Wirkstoff-Konjugat bindet an den GLP-1-Rezeptor, wird internalisiert und in der Zelle gespalten. Der Wirkstoff erreicht den Zellkern und reguliert die Genexpression, aber eben nur in GLP-1-affinen Zellen.
»Estrogen hat viele positive Effekte auf den Energiestoffwechsel«, erklärte Müller. Es senkt beispielsweise den Appetit und stimuliert die Proliferation der Insulin-produzierenden Betazellen in der Bauchspeicheldrüse. Im Brust- und Uterusgewebe kann eine Proliferation durch hohe Estrogen-Gaben jedoch zur Entartung als Brust- und Gebärmutterkrebs führen. Die Zellen dort hätten jedoch keine GLP-1-Rezeptoren. In Mäusen funktioniere das Konzept. Dort konnte mit einem GLP-1-Estrogen-Konjugat die Glucosetoleranz der Tiere verbessert werden, ohne dass es zu Uterus-Wucherungen kam.
Ebenfalls vielversprechend sahen Tierversuche mit einem GLP-1-Tesaglitazar-Konjugat aus. Tesaglitazar konnte aufgrund renaler und kardiovaskulärer Nebenwirkungen nicht als Insulin-Sensitizer bis zur Marktreife entwickelt werden. Auch hier hoffen die Forschenden auf eine Stoffwechsel-spezifische Wirkung durch die Kopplung. In der Präklinik wurde bei niedriger Dosierung eine stärkere Gewichtsreduktion erreicht als unter GLP-1-Agonisten.
Es gebe allerdings noch viele offene Fragen: Welcher Wirkstoff eignet sich am besten bei welchem Subtyp? Denkbar sei zum Beispiel, dass Polyagonisten, die Glucagon stimulieren, sich besonders gut bei Fettleber eignen.
Optimale Dosierungen müssten gefunden, unerwünschte Effekte und Langzeitwirkungen erforscht werden. Bislang deute nichts darauf hin, dass die dualen beziehungsweise Triple-Agonisten schlechter verträglich seien als reine GLP-1-Agonisten, eher im Gegenteil. Tschöp hofft, dass die Polyagonisten das therapeutische Fenster sogar weiten können, da sie durch die das Ansprechen verschiedener Hunger-Signale im Gehirn niedriger dosiert werden können als Substanzen, die nur einen Signalweg ansprechen. Präklinische Daten deuteten nicht auf weitere Nebenwirkungen hin. Besondere Aufmerksamkeit bedürfen hier allerdings die Glucagon-Agonisten, da Glucagon auch eine Rolle bei kardiovaskulären Prozessen spiele.
Wünschenswert wären zudem orale Anwendungsformen, denn bislang müssen die Polyagonisten (alles Peptid-Moleküle) noch subkutan injiziert werden. Entsprechende pharmazeutisch-technologische Formulierungen hielt Tschöp nicht für unmöglich.
Eine äußerst wichtige Frage ist zudem die Therapiedauer. Experten gehen bislang davon aus, dass es zum Rebound kommen wird, wenn die Adipositas-Medikamente abgesetzt werden. Es müsse noch erforscht werden, welche Moleküle in welcher Dosierung sich am ehesten für eine Erhaltungstherapie eignen. »Wir werden zu einer personalisierten medikamentösen Adipositas-Therapie kommen«, glaubt Tschöp.
Klar bleibt aber auch: Adipositas-Medikamente allein sind nicht die Lösung der Fettleibigkeits-Pandemie, sondern immer nur ein zusätzlicher Baustein neben mehr Bewegung, gesunder, kalorienreduzierter Ernährung und Verhaltenstherapie.