»Es ist nie zu spät einzugreifen« |
Brigitte M. Gensthaler |
05.10.2021 12:30 Uhr |
Wer regelmäßig Schmerzmittel einnimmt, kann abhängig werden. Der Analgetika-Dauergebrauch kann selbst Kopfschmerzen auslösen. / Foto: Fotolia/Peter Maszlen
Analgetika, Hypnotika und Sedativa: »Es geht nicht um Suchtmittel, sondern um Arzneimittel mit Suchtpotenzial«, stellte Pallenbach beim virtuellen Tag der Offizinpharmazie der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft Anfang Oktober klar. Der Gebrauch eines Mittels könne in Missbrauch münden und wiederholter Missbrauch in Gewöhnung. Daraus könne eine Abhängigkeit auf psychischer und physischer Ebene entstehen. »Bei einer Sucht kommt immer der Verlust von Freiwilligkeit hinzu.«
Arzneimittelabhängigkeit definierte er als das unabweisbare Verlangen nach dem Zustand, den das Medikament hervorgerufen hat. Betroffen seien oft alte Menschen. Abzugrenzen sei die absichtliche Einnahme eines Medikaments ohne medizinische Notwendigkeit. So sei ein Trend bei Jugendlichen zu beobachten, Arzneimittel als Konsumgut zu betrachten.
Arzneimittelabhängigkeit werde zu wenig wahrgenommen und behandelt. Zu zwei Dritteln sind Frauen betroffen. Für die Beratung in der Apotheke solle man sich nicht zu hohe Ziele setzen. »Erst einmal gilt es, das Problem anzusprechen, zum Nachdenken anzuregen und den Stein ins Rollen bringen.« Wichtig ist aber auch: »Es ist nie zu spät einzugreifen.« Auch in der neuen S3-Leitlinie zu medikamentenbezogenen Störungen finden Apotheker Hinweise für den Umgang mit Patienten mit schädlichem Arzneimittelgebrauch.
Um einer Abhängigkeit vorzubeugen, kann das Apothekenteam den Kunden auf Anwendungsbeschränkungen bei Kopfschmerzmitteln und Triptanen hinweisen. Faustregel: 20 Tage/Monat ohne Akutmedikation, festgehalten in einem Kopfschmerzkalender. Entscheidend sei die Einnahmedauer, nicht die Dosis.
Wie kommt man mit Kunden bei Vielgebrauch ins Gespräch? Pallenbach riet, nicht grundsätzlich die Abgabe zu verweigern, sondern ein Beratungsangebot zu machen, das der Kunde nicht ablehnen könne. »Bringen Sie ihn in eine freundliche Stimmung, signalisieren Sie, dass Sie ihn verstanden haben, holen Sie das gewünschte Mittel und bestätigen Sie, dass es ein wirksames Schmerzmittel ist.« Dann könne man eine Wendung einleiten und nach den Erfahrungen fragen, zum Beispiel nach Wirksamkeit, Schmerzhäufigkeit und Einnahmedauer. Bei der Abgabe gilt es, mögliche Probleme wie Arzneimittel-induzierten Kopfschmerz anzusprechen und weitere Beratung und Hilfe anzubieten.
Bei Abhängigkeit werde das Kopfschmerzmittel abrupt abgesetzt. Neben der Aufklärung des Patienten seien schmerzmedizinische Behandlung und ein Schmerzbewältigungstraining angezeigt. Apotheker sollten sich über regionale Anlaufstellen und Selbsthilfegruppen, zum Beispiel die Deutsche Schmerzliga oder den Kreuzbund, informieren.
Opioid-Analgetika, die heute zu drei Viertel für Nicht-Tumorpatienten verordnet werden, machen bei indizierter korrekter Anwendung nicht süchtig. Retardierte Präparate lösten bei Schmerzpatienten keinen Kick und keine psychische Abhängigkeit aus, sagte Pallenbach.
Er warnte vor dem Missbrauch von Fentanyl-Pflastern durch Süchtige. »Wichtig sind die sorgfältige Aufbewahrung und Entsorgung der TTS, denn diese können nach dreitägigem Gebrauch noch 70 Prozent der Arzneistoffdosis enthalten.« Hier sei die pharmazeutische Beratung des Pflegepersonals in Heimen ganz wichtig. Hilfreich sei zum Beispiel, die gebrauchten Pflaster zu zerschneiden, in benutzte Windeln zu stecken und den Müll täglich zeitversetzt zu entsorgen.
Zum Thema Benzodiazepine wies Pallenbach auf ein vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördertes Modellprojekt von 2014 hin, in dem Ärzte und Apotheker gemeinsam Benzodiazepin-abhängige Patienten gezielt ansprechen und über eine schrittweise Dosisreduktion entwöhnen sollten. »Ein abruptes Absetzen ist hier nicht zu empfehlen. Hilfreich ist die schonende Dosisreduktion in kleinen Schritten über mehrere Wochen, am besten mit Oxazepam.« Durchschnittlich wurden die Patienten 90 Tage von Arzt und Apotheker betreut. Drei Viertel konnten das Schlafmittel absetzen oder dessen Dosis reduzieren. Durch die Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker wurde die Arzneimitteltherapiesicherheit deutlich verbessert.