Erster bispezifischer Antikörper bei Lungenkrebs |
Annette Rößler |
03.02.2022 07:00 Uhr |
Rauchen ist bekanntlich der größte Risikofaktor für Lungenkrebs. Beim NSCLC mit Exon-20-Insertion ist das aber anders: Diese Krebsform betrifft sehr häufig Patienten, die nie geraucht haben. / Foto: Getty Images/Nipitphon Na Chiangmai/EyeEm
Beim nicht kleinzelligen Lungenkrebs (NSCLC) sind häufig Gene, die für bestimmte regulatorische Proteine kodieren, verändert und dadurch überaktiv. Ein Beispiel ist der epidermale Wachstumsfaktor-Rezeptor (EGFR), der bei 10 bis 15 Prozent der Patienten mit NSCLC überexprimiert wird. Diese Patienten können meist erfolgreich mit einem gegen EGFR gerichteten Tyrosinkinasehemmer (TKI) wie Erlotinib, Gefitinib, Afatinib oder Dacomitinib behandelt werden. Allerdings verlieren diese Wirkstoffe oft nach einiger Zeit ihre Wirksamkeit, weil der Tumor weiter mutiert. Häufig kommt es etwa zu einer bestimmten Punktmutation im Exon 20 des EGFR-Gens (T790M), gegen die es auch schon einen TKI gibt: Osimertinib. Ein weiterer häufiger Resistenzmechanismus ist eine Amplifikation des Gens für den mesenchymal-epithelialen Transitionsfaktor (MET).
Bei bestimmten Mutationen des EGFR sind TKI von vorneherein kaum wirksam, nämlich bei Insertionen im Exon 20 des EGFR-Gens. Sie liegen bei 4 bis 10 Prozent der NSCLC-Patienten mit EGFR-Mutation vor. Die therapeutischen Optionen dieser Patienten waren bislang begrenzt; in Ermangelung zielgerichteter Wirkstoffe kam meist eine platinbasierte Chemotherapie zum Einsatz.
Mit Amivantamab (Rybrevant® 350 mg Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, Janssen-Cilag) steht nun erstmals ein Wirkstoff für Patienten mit NSCLC und EGFR-Exon-20-Insertion zur Verfügung. Es handelt sich um einen bispezifischen Antikörper, der mit seinem einen Ende EGFR bindet und mit dem anderen MET. Dadurch werden einerseits die EGFR- und MET-Signalfunktionen blockiert. Andererseits lockt die Bindung von Amivantamab an die Krebszelle auch Immunzellen wie natürliche Killerzellen und Makrophagen an, die die Tumorzelle direkt zerstören.
Gemäß der Zulassung wird Amivantamab als Monotherapie gegeben und darf nur bei erwachsenen Patienten mit fortgeschrittenem NSCLC eingesetzt werden, bei denen eine platinbasierte Chemotherapie versagt hat und eine EGFR-Exon-20-Insertion nachgewiesen ist. Laut einer Publikation in »Touch Oncology« wurde Amivantamab aber nicht speziell für diese Patienten entwickelt, sondern um die Entwicklung von TKI-Resistenzen hinauszuzögern und als Resistenzbrecher bei erworbenen TKI-Mutationen (DOI: 10.17925/OHR.2021.17.1.42). An der noch laufenden CHRYSALIS-Studie (NCT02609776), die für die Zulassung ausschlaggebend war, nehmen auch Patienten mit anderen Mutationen als Exon-20-Insertionen teil. Weitere positive Ergebnisse vorausgesetzt, ist also mit entsprechenden Indikationserweiterungen zu rechnen.
Amivantamab wird nach Körpergewicht dosiert. Patienten, die weniger als 80 kg wiegen, erhalten 1050 mg (drei Durchstechflaschen), schwerere Patienten 1400 mg (vier Durchstechflaschen). Die Behandlung erfolgt als intravenöse Infusion einmal wöchentlich für vier Wochen und ab Woche 5 im zweiwöchentlichen Rhythmus. Um die Verträglichkeit zu verbessern, soll die erste Infusion in Woche 1 auf die Tage 1 und 2 aufgeteilt werden. Ebenfalls der Verbesserung der Verträglichkeit dient eine Prämedikation bestehend aus Antihistaminika, Antipyretika und bei Bedarf Antiemetika sowie an den Tagen 1 und 2 (Erstgabe) Glucocorticoiden.
Die Gabe von Amivantamab führte in Studien sehr häufig beziehungsweise häufig zu Nebenwirkungen, darunter Haut- und Nagelreaktionen, infusionsbedingte Reaktionen und interstitielle Lungenerkrankung. Diese können schwerwiegend sein. Abhängig von Art und Schweregrad der Nebenwirkungen werden in der Fachinformation eine vorübergehende Unterbrechung der Infusion, eine Verringerung der Infusionsgeschwindigkeit, eine Dosisreduktion oder das Absetzen der Therapie empfohlen.
Da auch Schwindel, Müdigkeit und Sehverschlechterung mögliche Nebenwirkungen sind, kann die Verkehrstüchtigkeit des Patienten eingeschränkt sein.
Frauen im gebärfähigen Alter müssen während der Behandlung und bis drei Monate danach zuverlässig verhüten. Amivantamab darf in der Schwangerschaft nicht angewendet werden, es sei denn, der Nutzen für die Frau überwiegt die potenziellen Risiken für den Fetus. In der Stillzeit muss eine Entscheidung getroffen werden, ob das Stillen unterbrochen oder die Amivantamab-Therapie unterbrochen beziehungsweise abgesetzt werden soll.
Wirksamkeit und Sicherheit von Amivantamab in der jetzt zugelassenen Indikation wurden in der bereits erwähnten offenen Multikohortenstudie CHRYSALIS bei 114 Patienten gezeigt. Darin sprachen 37 Prozent der Patienten auf die Therapie an, allerdings war dies lediglich ein partielles Ansprechen und es gab keine bestätigte komplette Remission. Die Dauer des Ansprechens betrug im Median 12,5 Monate.
Rybrevant ist im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C und in der Originalverpackung zu lagern. Vor der Anwendung muss es in 5-prozentiger Glucoselösung oder 0,9-prozentiger Kochsalzlösung verdünnt werden. Die verdünnte Lösung soll innerhalb von zehn Stunden infundiert sein.
Insertionsmutationen im Exon 20 des EGFR-Gens stellen einen herausfordernden Subtyp von NSCLC mit schlechter Gesamtprognose dar. Dank Amivantamab gibt es nun erstmals eine zielgerichtete Behandlungsoption. Auch wenn der Antikörper nicht in der Erstlinie zum Einsatz kommt und die Gesamtansprechrate in der CHRYSALIS-Studie zeigt, dass längst nicht alle Patienten profitieren, bedeutet die Markteinführung für einige Patienten doch einen Vorteil. Amivantamab kann zudem aufgrund seines neuartigen Wirkprinzips, das auf die extrazellulären EGFR- und MET-Domäne abzielt, als Schrittinnovation bezeichnet werden.
Alle Fragen zu dem Arzneistoff sind noch nicht beantwortet. So schreitet die Erkrankung bei manchen Patienten auch unter Amivantamab fort. Zukünftige Untersuchungen sollten daher klären, wie sich die Empfindlichkeit gegenüber Amivantamab bei verschiedenen Exon-20-Mutationen unterscheidet und ob es potenzielle Biomarker gibt, die das Ansprechen vorhersagen könnten. Vermutlich wird Amivantamab als monoklonaler Antikörper kaum die Blut-Hirn-Schranke überwinden, weshalb seine Anwendung bei Patienten mit Gehirnmetastasen möglicherweise eingeschränkt ist.
Aufmerksam sollte man weitere Studien zur Bewertung der Verwendung von Amivantamab verfolgen – sowohl in Kombinationstherapien als auch als First-Line-Medikament.
Sven Siebenand, Chefredakteur