Eine Krankheit, die auch gendert |
Annette Rößler |
23.02.2024 12:26 Uhr |
Männer erkranken häufiger an Krebs und auch die krebsbedingte Sterblichkeit ist bei Männern höher als bei Frauen. Dafür scheinen verschiedene genetische Faktoren, aber auch geschlechtstypische Verhaltensweisen verantwortlich zu sein. / Foto: Getty Images/ronstik
Zu Geschlechtsunterschieden bei Krebs gab es beim Deutschen Krebskongress, der zurzeit in Berlin stattfindet, eine eigene Session. Die Unterschiede sind teilweise eklatant – ohne dass dies in der klinischen Praxis momentan adäquat berücksichtigt wird. Das machte Professor Dr. Anne Letsch von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel deutlich. »Dabei sind die Aspekte ›Geschlecht‹ im Sinne der biologischen Merkmale von Mann und Frau und ›Gender‹ im Sinne des sozialen Geschlechts nicht voneinander zu trennen«, sagte Letsch. Beides zusammen beeinflusse unter anderem das Krebsrisiko einer Person.
Was ist damit gemeint? Als biologischen Faktor, der in diesem Zusammenhang relevant ist, nannte Letsch das X-Chromosom. Von diesem haben Frauen bekanntlich zwei Exemplare, Männer aber nur eines. Mit Blick auf das Krebsrisiko kann das eine Rolle spielen, denn auf dem X-Chromosom sind laut der Referentin viele Onkogene, aber auch Tumorsuppressorgene lokalisiert. Bei Frauen entscheide der Zufall, welches X-Chromosom in der frühen Embryogenese inaktiviert werde und welches aktiv bleibe. »Sie haben also die Chance, dass das inaktivierte X-Chromosom von einer Treibermutation für Krebs betroffen ist, Männer dagegen nicht.«
Hinzu kommt, dass laut einer 2017 im Fachjournal »Nature Genetics« erschienenen Arbeit bis zu 15 Prozent der auf dem X-Chromosom lokalisierten Gene der Inaktivierung entgehen. Diese Gene werden auf Englisch als Escaper bezeichnet. Selbst wenn bei einer Frau also eine krebsassoziierte Mutation auf dem aktiven X-Chromosom vorliegt, kann dies unter Umständen durch ein Escaper-Gen auf dem inaktivierten X-Chromosom ausgeglichen werden.
Genderaspekte, die im Zusammenhang mit Krebs wichtig sein können, sind Verhaltensweisen, die den klassischen Rollenbildern entsprechen. Wie man sich ernährt, wie viel Sport man treibt, wie man mit Stress umgeht, wie viel man schläft, wie schnell man beim Auftreten von gesundheitlichen Beschwerden einen Arzt aufsucht – in vielen dieser Punkte unterscheiden sich Frauen und Männer trotz aller Genderdebatten auch heute noch. »Solche Lebensstilfaktoren beeinflussen das Krebsrisiko, auch über epigenetische Mechanismen«, stellte Letsch fest.
Dabei haben verschiedene Faktoren abhängig vom Geschlecht teilweise auch gegensätzliche Einflüsse, wie aus einer 2020 im Fachjournal »Frontiers in Oncology« publizierten Arbeit hervorgeht. Beispiel Rauchen: In Tabakrauch-assoziierten Lungentumoren von weiblichen Patienten fanden die Autoren erhöhte Level von DNA-Addukten, mehr TP53-Mutationen, eine verstärkte Expression des Enzyms CYP1A1, das viele Karzinogene metabolisiert, sowie eine weniger effiziente DNA-Reparatur. Im Tumorgewebe von männlichen Patienten war dagegen jeweils genau das Gegenteil zu beobachten.
Welcher der genannten Aspekte jeweils wie stark ins Gewicht fällt, lässt sich im Einzelfall nicht sagen. Insgesamt seien unter dem Strich aber sowohl die Krebsinzidenz als auch die -mortalität bei Männern höher als bei Frauen, informierte Letsch. Laut einer Publikation im Fachjournal »Clinical and Translational Oncology« aus dem Jahr 2023 sind Männer von allen Krebsarten mit Ausnahme der Schilddrüsen- und Gallengangskarzinome häufiger betroffen als Frauen – Krebsarten, die direkt die Geschlechtsorgane betreffen, einmal außen vorgelassen.
Wie gut eine Krebstherapie vertragen wird und wie wirksam sie ist, hängt auch vom Geschlecht des Patienten ab. / Foto: Getty Images/Isaac Lane Koval/Corbis/VCG
Während für Frauen also beim Krebsrisiko generell ein Vorteil gegenüber Männern besteht, sind sie dafür bei der Krebstherapie häufig im Nachteil, weil sie diese weniger gut vertragen. »Mittlerweile gibt es etliche Arbeiten, die zeigen, dass Frauen meistens häufiger und/oder stärker von Nebenwirkungen der Therapie betroffen sind als Männer«, sagte Letsch. Dadurch könnten Frauen teilweise weniger Behandlungszyklen erhalten als Männer, was aber in Studien oft nur unzureichend dokumentiert werde.
Die Frage, ob weibliche Patienten tendenziell überdosiert seien und für eine optimale Wirkung eigentlich weniger Wirkstoff bräuchten oder ob anders herum männliche Patienten tendenziell unterdosiert seien, kann daher anhand der verfügbaren Daten nicht beantwortet werden. Hier bestehe dringender Forschungsbedarf, so Letsch. Zurzeit gebe es nur für einen einzigen onkologischen Wirkstoff geschlechtsabhängig unterschiedliche Dosisempfehlungen, nämlich für Rituximab. Die Empfehlung, älteren Männern 500 mg/m2 statt 375 mg/m2 als Einzeldosis zu verabreichen, weil sie signifikant niedrigere Serumspiegel und ein schlechteres Outcome hatten als Frauen, basiert auf mehreren Studien, steht aber nicht in der Fachinformation.
»Sowohl in der Bioverfügbarkeit und Verteilung als auch beim Stoffwechsel und bei der Ausscheidung von Tumortherapeutika kann es Unterschiede zwischen Männern und Frauen geben«, sagte Letsch. Beispiele für Chemotherapeutika mit signifikanten Geschlechtsunterschieden in der Pharmakokinetik seien 5-Fluorouracil und Paclitaxel. Hinzu komme, dass die Empfindlichkeit des normalen Gewebes, aber auch des Tumorgewebes bei Männern und Frauen unterschiedlich sein könne, sodass die Dosis-Wirkungs- beziehungsweise Dosis-Toxizitäts-Beziehungen der einzelnen Wirkstoffe nicht zwangsläufig bei beiden Geschlechtern gleich seien.
Zu hinterfragen wäre möglicherweise auch, ob die Körperoberfläche, nach der die meisten onkologischen Wirkstoffe dosiert werden, als Maßzahl bei beiden Geschlechtern gleich gut geeignet ist. Darauf wies Privatdozentin Dr. Ute Seeland von der Berliner Charité hin. Diese Lehre könne man aus der Diskussion um den Body-Mass-Index (BMI) ziehen, über dessen Unzulänglichkeit als gesundheitlicher Risikofaktor mittlerweile Einigkeit in der Fachwelt herrscht. Deutlich aussagekräftiger als der BMI sei die metabolisch aktive fettfreie Körpermasse. Diese betrage beim Mann circa 80 Prozent des BMI, bei der Frau aber nur 65 Prozent.
Und die Geschlechtshormone? Auch diese scheinen an den Unterschieden bei der Krebsinzidenz und -therapie einen Anteil zu haben, und zwar weil sie das Immunsystem beeinflussen. »Mit Ausnahme der CD8-positiven Zellen sind alle Immunzellen bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern«, berichtete Dr. Kathrin Heinrich vom LMU Klinikum München unter Verweis auf eine Publikation im Fachjournal »iScience« aus dem Jahr 2022. »Das zeigt sich etwa bei Impfungen: Frauen reagieren stärker.« Zuletzt wurde das in der Impfkampagne während der Coronapandemie deutlich. Die Covid-19-bedingte Sterblichkeit sei dagegen bei Männern höher gewesen, erinnerte Heinrich.
Durch die onkologische Brille gesehen sind die immunologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau außer für das Krebsrisiko vor allem für die Immuntherapie interessant. Diese ist bei weiblichen Patienten schlechter wirksam als bei männlichen, wie aus einer 2018 im Fachjournal »The Lancet Oncology« erschienenen Metaanalyse hervorgeht. Berücksichtigt wurden 20 Studien mit insgesamt 11.351 Patienten mit fortgeschrittenem oder metastasiertem Melanom oder nicht kleinzelligen Lungenkarzinom (NSCLC), die mit einem Checkpoint-Inhibitor (Ipilimumab, Tremelimumab, Nivolumab oder Pembrolizumab) behandelt wurden. Die Sterblichkeit war bei den männlichen Patienten signifikant niedriger als bei den weiblichen (Hazard Ratio 0,72 versus 0,86).
Bezeichnend war dabei, dass an den eingeschlosssenen Studien 67 Prozent Männer teilgenommen hatten und nur 33 Prozent Frauen. Es sei daher dringend geboten, den Frauenanteil in klinischen Studien zu erhöhen, so die Autoren. Denn aus überwiegend mit Männern erzielten Studienergebnissen dürfe man nicht automatisch die gleiche Wirksamkeit bei Frauen ableiten.
Auch ob die Immuntherapie allein oder in Kombination mit einer Chemotherapie gegeben wird, ist dabei relevant. Letztere Vorgehensweise wird laut Heinrich in der klinischen Praxis immer gebräuchlicher. Interessanterweise sei dabei zu beobachten, dass auf eine kombinierte Immuncheckpoint-/Chemotherapie wiederum Frauen besser ansprechen als Männer. Das müsse in Studien überprüft werden.
Als weiteren potenziellen Einflussfaktor, der »momentan überhaupt nicht berücksichtigt« werde, nannte die Referentin die Menopause. Ob eine Patientin sich vor oder nach der Menopause befinde, müsse in Studien erfasst werden, um gegebenenfalls Unterschiede in der Wirksamkeit und Verträglichkeit von Wirkstoffen aufdecken zu können. Wichtig für das Ansprechen auf die Immuntherapie könnte auch sein, ob beziehungsweise wie oft eine Frau in ihrem Leben schwanger war, denn während der Schwangerschaft ist das Immunsystem neun Monate lang funktionell supprimiert, damit das Kind nicht abgestoßen wird.