Ein Wirkstoff, zwei Indikationen |
Kerstin A. Gräfe |
03.08.2023 07:00 Uhr |
Punktmutationen des Enzyms Isocitrat-Dehydrogenase-1 (IDH1) kommen unter anderem beim Gallenwegskarzinom und bei akuter myeloischer Leukämie vor. Die mutierte IDH1-Form ist das Target des neuen Wirkstoffs Ivosidenib. / Foto: Getty Images/Alfred Pasieka/Science Photo Library
Ivosidenib ist ein Inhibitor des mutierten IDH1-Enzyms. Die mutierte Form führt dazu, dass der Onkometabolit 2-Hydroxyglutarat (2-HG) akkumuliert. 2-HG stimuliert epigenetische Fehlregulierungen wie Hypermethylierung und blockiert die Zelldifferenzierung. In der Folge häufen sich undifferenzierte Zellen an, was die Tumorentstehung bei hämatologischen sowie auch bei nicht hämatologischen Malignomen fördert.
In Kombination mit Azacitidin wird der neue Wirkstoff angewendet zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit neu diagnostizierter AML mit einer IDH1-R132-Mutation, die für eine Standard-Induktionschemotherapie nicht geeignet sind. Als Monotherapie ist Ivosidenib indiziert zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Cholangiokarzinom mit einer IDH1-R132-Mutation, die zuvor bereits mit mindestens einer systemischen Therapie behandelt worden sind. In beiden Indikationen muss vor Therapiestart die entsprechende Mutation per Test nachgewiesen worden sein.
Die empfohlene Dosis beträgt 500 mg Ivosidenib, also zwei Filmtabletten, einmal täglich. Die Patienten sollten zwei Stunden vor und eine Stunde nach der Einnahme nichts essen und während der Behandlung Grapefruit und Grapefruitsaft vermeiden. Bei schwerer Nierenfunktionsstörung sowie bei mäßiger bis schwerer Leberfunktionsstörung darf Ivosidenib nur mit Vorsicht und unter engmaschiger Überwachung zum Einsatz kommen.
Unter der Behandlung kann es zur Verlängerung des herzfrequenzkorrigierte QT-Intervalls (QTC-Intervall) am Herzen kommen. Kontraindiziert ist Tibsovo daher unter anderem bei angeborenem Long-QT-Syndrom sowie einem QT/QTC-Intervall > 500 ms, unabhängig von der Korrekturmethode. Nicht angewendet werden darf der Wirkstoff zudem bei plötzlichem Tod oder polymorphen ventrikulären Arrhythmien in der Familienanamnese.
Vor Therapiebeginn muss ein EKG gemacht werden. Das QTc-Intervall sollte weniger als 450 ms betragen. Anschließend müssen EKG während der ersten drei Therapiewochen mindestens einmal wöchentlich und danach, wenn das QTc-Intervall ≤ 480 ms bleibt, monatlich durchgeführt werden. Die Patienten sollten über das Risiko aufgeklärt werden sowie die Anzeichen und Symptome einer QT-Verlängerung wie Herzklopfen, Schwindel, Synkope oder sogar Herzstillstand kennen.
Die gleichzeitige Einnahme von Arzneimitteln, die ebenfalls das QTC-Intervall verlängern, ist zu vermeiden. Das gilt auch für die Kombination mit moderaten oder starken CYP3A4-Hemmern, die das Risiko einer QTC-Intervallverlängerung erhöhen. Lässt sich die gleichzeitige Anwendung nicht vermeiden, sollte die Ivosidenib-Dosis auf einmal täglich 250 mg reduziert werden.
Ivosidenib ist ein Substrat von CYP3A4. Die gleichzeitige Gabe von starken CYP3A4-Induktoren ist kontraindiziert. Zugleich induziert der Wirkstoff CYP3A4 sowie CYP2B6, CYP2C8, CYP2C9 und CYP2C19, was die systemische Exposition gegenüber Substraten dieser Enzyme verringern kann.
Des Weiteren kann Ivosidenib die systemische Exposition von Wirkstoffen, die überwiegend durch p-Glykoprotein transportiert werden, verändern. Die Kombination mit Dabigatran ist daher kontraindiziert. Zudem hemmt der neue Wirkstoff die Transportproteine OAT3, OATP1B1 und OATP1B3. Die gleichzeitige Verabreichung von OAT3-Substraten (etwa Furosemid) oder sensitiven OATP1B1/1B3-Substraten (etwa Atorvastatin) gilt es zu vermeiden.
Für AML-Patienten gibt es noch einen gesonderten Warnhinweis. Bei ihnen ist unter der Behandlung ein Differenzierungssyndrom aufgetreten. Es geht mit einer schnellen Proliferation und Differenzierung von myeloischen Zellen einher und kann lebensbedrohlich oder tödlich sein. Zu den Symptomen zählen unter anderem periphere Ödeme, Pyrexie, Dyspnoe und Hypotonie. Patienten sollten diese Symptome kennen und sich beim Auftreten unverzüglich an ihren Arzt wenden. Zudem sollten sie die Patientenkarte zur sicheren Anwendung stets bei sich tragen.
Frauen im gebärfähigen Alter sollen vor Behandlungsbeginn einen Schwangerschaftstest durchführen. Sie sowie Männer mit Partnerinnen im gebärfähigen Alter müssen während der Therapie und für mindestens einen Monat danach eine zuverlässige Verhütungsmethode anwenden. Da Ivosidenib die systemische Konzentration von hormonellen Verhütungsmitteln vermindern kann, wird die gleichzeitige Anwendung einer alternativen Verhütungsmethode empfohlen
Nicht empfohlen wird der Einsatz des neuen Medikaments in der Schwangerschaft. Das Stillen soll während der Behandlung und für mindestens einen Monat nach der letzten Dosis unterbrochen werden.
Die Zulassung bei AML erfolgte auf Basis der Phase-III-Studie AGILE mit 200 Patienten, die randomisiert Azacitidin entweder mit oder ohne Ivosidenib erhielten. Als primärer Endpunkt war das ereignisfreie Überleben definiert. Die Studie wurde frühzeitig beendet, da sich ein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Wirksamkeit zeigte.
Die Hinzunahme von Ivosidenib führte zu einer signifikanten Verlängerung des ereignisfreien Überlebens (HR = 0,33; p = 0,002) und des Gesamtüberlebens (HR = 0,44; p < 0,001). Im Durchschnitt konnte das Gesamtüberleben von 7,9 Monaten unter Azacitidin plus Placebo auf 24 Monate unter Azacitidin plus Ivosidenib verdreifacht werden.
Die häufigsten hämatologischen Nebenwirkungen von Grad ≥ 3 waren Anämie, Neutropenie sowie febrile Neutropenien. Übelkeit und Erbrechen sowie Blutungsereignisse zählten zu den häufigsten nicht hämatologischen Nebenwirkungen über alle Schweregrade hinweg.
Sicherheit und Wirksamkeit in der Indikation Cholangiokarzinom belegte Ivosidenib in der Phase-III-Studie ClarIDHy an 187 Patienten. Die Patienten erhielten randomisiert entweder einmal täglich 500 mg Tibsovo oder Placebo. Der primäre Endpunkt war das progressionsfreie Überleben (PFS). Unter Ivosidenib kam es mit 2,7 Monaten zu einer signifikanten Verbesserung des PFS verglichen mit 1,4 Monaten unter Placebo.
Die häufigsten Nebenwirkungen waren Müdigkeit, Übelkeit, Bauchschmerzen, Durchfall, verminderter Appetit, Aszites, Erbrechen, Anämie und Hautausschlag.
Mit Ivosidenib ist ein weiteres Medikament für die zielgerichtete Krebstherapie auf den Markt gekommen. Es handelt sich um den ersten in Deutschland verfügbaren IDH1-Inhibitor und damit die erste zielgerichtete Therapie für IDH1-mutierte Tumorerkrankungen. Schon dieser neue Wirkmechanismus verdient die vorläufige Bewertung als Sprunginnovation.
Aber auch die Ergebnisse der zulassungsrelevanten Studien zeigen, dass Patienten immens von der Therapie mit Ivosidenib profitieren können, was die Einstufung des neuen Wirkstoffs zusätzlich rechtfertigt. Wichtig ist, dass die entsprechende Mutation vorher nachgewiesen wurde. Leider kommen längst nicht alle Patienten für die Therapie mit Ivosidenib infrage. Nur etwa jeder zehnte AML-Patient weist in den leukämischen Zellen Mutationen der IDH1 auf. Diese Patienten können dann aber sehr von der neuen Therapieoption profitieren. Bei weiteren 10 Prozent der AML-Patienten ist übrigens das Enzym IDH2 mutiert, das durch den in den USA bereits zugelassenen Arzneistoff Enasidenib gehemmt wird. Möglicherweise wird dieser Arzneistoff dann eines Tages auch in Deutschland im Handel sein.
Beim Gallenwegskarzinom (CCA), der zweiten Indikation von Ivosidenib, sind die therapeutischen Optionen ab der Zweitlinie ohnehin überschaubar, sodass die zielgerichtete Therapie mit dem Neuling ein wichtiger Fortschritt ist. Das belegen die überzeugenden Studiendaten. Zu bedenken auch an dieser Stelle: Auch das CCA ist ein Tumor mit hoher genomischer Heterogenität. Die IDH1-Mutation ist zwar die häufigste Veränderung beim intrahepatischen CCA, allerdings auch nur mit einem Anteil von 15 bis 20 Prozent.
Gut möglich, dass zukünftig noch andere Indikationen für Ivosidenib hinzukommen werden. Es wird derzeit in einer Reihe von klinischen Studien bei verschiedenen Tumoren mit IDH1-Mutation getestet.
Sven Siebenand, Chefredakteur