Editorial
Nahkampf
Ein Bayer würde mit
schmerzlichem Gesicht von "Gschaftlhuberei"
sprechen. Der Preuße würde mit griesgrämigem Ausdruck
höchstwahrscheinlich einige Aktenordner füllen. Und ein
Sizilianer würde bei der Camorra nachfragen, ob man das
Problem nicht auf ganz natürliche Weise erledigen
könnte. Gemeint sind die Berge von Papieren und
Stellungnahmen und gegenseitigen Beschimpfungen, die sich
im "vorpolitischen" Raum als Reaktion auf den
Entwurf des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes ereignen. Die
meisten Beteiligten versuchen sich nicht mehr mit
kritischer Würdigung an den Gesetzentwürfen - das
schließt auch eine Ablehnung ein. Sondern es findet ein
echter Nahkampf statt: Organisation gegen Organisation.
Eine Standortbestimmung ist offensichtlich nicht mehr
möglich. Herausragende Beispiele sind drei in der
letzten Woche bekanntgewordene (Un-)Taten.
Erstes Beispiel: Die Kassenärztliche Bundesvereinigung
versucht den Doppel-Jodler. Einerseits werden durch
Notprogramme und Listen die Vertragsärzte massiv
angehalten, weniger Arzneimittel zu verschreiben.
Andererseits vergießt sie in einem Schreiben an
Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer
Krokodilstränen; das Wissenschaftliche Institut der
Ortskrankenkassen (WIdO) habe ihr nicht eine
indikationsbezogene Liste mit Präparatenamen über die
umstrittenen Arzneimittel geschickt. Einmal, weil es die
noch gar nicht gibt - wobei zu fragen ist, warum die
Krankenkassen dann seit Jahren Einsparungen von sieben
Milliarden DM herbeizaubern wollen. Außerdem dürfe
diese Liste nach WIdO-Angaben aus Haftungsgründen, wobei
die Apothekerschaft diese Aussage stütze, nur intern
verwendet werden. Obwohl, so schreiben die
Ärztevertreter, man mit dieser Liste nachweisen könne,
daß viele umstrittene Arzneien gar nicht mehr so
umstritten sind. Ja, warum dann die unsägliche
Einflußnahme auf den verordnenden Arzt?
Das zweite Ereignis fand intern statt. Vertreter der
GKV-Spitzenverbände und der KBV berieten ein geheim
gehaltenes Papier über mögliche Kosteneinsparungen bei
anderen Leistungserbringern. 11,5 Milliarden DM sollten
eingespart werden. Als dem Beratungsgremium die
Einsparunterlagen doch zu heiß wurden, weil vor allem
die Ärzte so nicht im Leistungskatalog und bei den
Vertragsbeziehungen wildern wollten, zog man sich mit dem
Versprechen zurück, die Unterlagen zu vernichten.
Offensichtlich ging es doch nicht schnell genug.
Der dritte Streich war dann ein Gegenentwurf zum
Gesetzentwurf der Regierung durch die Verbände der
Krankenkassen - eine Retourkutsche für die Ärzteschaft,
die bei dem internen ersten Papier nicht mitziehen
wollte. Nun sollen auch die Ärzte kräftig zur Ader
gelassen werden. Eine Heilmethode aus dem Mittelalter, an
die viele glaubten, die aber wenig erfolgversprechend
war. Als pragmatische Alternative bezeichnete Martin
Pfaff von der SPD-Bundestagsfraktion das
Formel-1-Rennpapier der Kassen; für Wolfgang Lohmann von
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es ein Wegweiser für
den Krankenkassenstaat.
Mittwoch fand dann die Anhörung aller Beteiligten zum 2.
GKV-Neuordnungsgesetz statt. Deutlich wurde, daß die
Regierungskoalition daran festhält, den Krankenkassen
die von diesen ungeliebte Entscheidungs- und
Verantwortungskompetenz bei Gestaltungsleistungen, zu
überlassen. Der Preuße kann seine Akten wieder
einstampfen, der Bayer braucht nicht mehr zu granteln.
Und die Camorra hat nun auch nichts mehr zu sagen.
Rainer Vollmer, Bonn
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