Editorial
von Hermann St. Keller
Vorsitzender des Deutschen Apothekerverbandes e. V.
Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat am 28. April 1998 in einer
Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zwei Entscheidungen getroffen, die nicht
ohne Auswirkung auf das Sozialversicherungssystem in Deutschland bleiben werden:
Sieht ein nationales Krankenversicherungssystem vor, daß ein Versicherter für
bestimmte Hilfsmittel eine pauschale Kostenerstattung erhält, verstößt nach Ansicht
des Europäischen Gerichtshofes eine Regelung, die eine Kostenerstattung für den
Fall des Kaufs eines Hilfsmitttels im europäischen Ausland von einer vorherigen
Genehmigung der Krankenkasse abhängig macht, gegen die einschlägigen
Bestimmungen des EG-Vertrages.
Gleiches gilt für nationale Regelungen, welche die Erstattung der Kosten für ärztliche
Behandlungen durch einen Arzt in einem anderen Mitgliedstaat von der
Genehmigung einer gesetzlichen Krankenkasse abhängig machen. Die Versicherten
dürfen danach in Zukunft Leistungen, die sie nach den sozialversicherungsrechtlichen
Bestimmungen zu erhalten haben, in Mitgliedstaaten der EU zu Lasten der
Krankenkassen in Anspruch nehmen. Müssen die Apotheken in Deutschland nun
fürchten, daß sie von ihren Patienten verlassen werden? Werden die Patienten
gezwungen, sich "Billigleistungen" im Ausland zu beschaffen? Wird jetzt ein
"Beschaffungstourismus" eingeleitet? Diese Fragen sind ohne Wenn und Aber zu
verneinen.
Die Versorgungsqualität der deutschen Apotheken ist allgemein anerkannt und
braucht weder im Hinblick auf die Qualität der persönlichen Dienstleistungen in der
Apotheke noch mit Blick auf die Qualität der Arzneimittel den Vergleich mit dem
europäischen Ausland zu fürchten. Die Patienten werden aus diesem Grund
Arzneimittel nicht allein deshalb im benachbarten europäischen Ausland beschaffen
wollen, weil dort eine qualitativ bessere Versorgung erfolge. Anreize für Versicherte,
sich Leistungen im Ausland zu beschaffen, oder Bestrebungen von Krankenkassen,
Versicherte auf Leistungen im europäischen Ausland zu verweisen, könnten deshalb
allenfalls wirtschaftlicher Natur sein. Solche Anreize sind aber nur in beschränktem
Umfang vorhanden.
Da das Preisniveau für Arzneimittel in Deutschland keineswegs, wie es immer wieder
behauptet wird, im europäischen Vergleich an der Spitze steht, sind Preisvorteile
durch einen Bezug von Arzneimitteln im benachbarten Ausland sehr häufig überhaupt
nicht zu erzielen. In diesem Zusammenhang ist auch anzumerken, daß der Bezug von
Arzneimitteln und sonstigen Produkten im Ausland den Patienten nicht automatisch
von der Verpflichtung zur Zuzahlung befreit, sondern bei der Berechnung der
eventuellen Kostenerstattung die Zuzahlung in Anrechnung zu bringen ist, die der
Versicherte bei einem Bezug der Mittel in Deutschland zu leisten hätte. Die
Kostenerstattung bei den heimischen Kassen richtet sich nach den in Deutschland
geltenden Verträgen, die Abgabe der Arzneimittel erfolgt auf Grundlage der
deutschen Gesetze.
Gleichwohl mögen Fälle verbleiben, in denen Versicherte und Krankenkassen - sei
es aus irrationalen Erwägungen, sei es aus in Ausnahmefällen begründbaren
wirtschaftlichen Gründen - von der Möglichkeit der Beschaffung von Arzneimitteln
im Ausland Gebrauch machen wollen. Es müssen aber Zweifel angemeldet werden,
ob bereits allein aufgrund der neuen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes
eine solche Leistungsbeschaffung für Versicherte im Ausland bereits heute möglich
ist.
Es darf nicht übersehen werden, daß die Entscheidungen des Gerichtshofes auf das
Sozialversicherungssystem in Luxemburg bezogen sind, in dem bereits heute das
System der Kostenerstattung generell eingeführt ist. Demgegenüber herrscht in
Deutschland grundsätzlich das Sachleistungsprinzip, nach dem Zweiten
Neuordnungsgesetz aus dem Jahr 1997 können Versicherte zwar auch
Kostenerstattung wählen, die Voraussetzungen zur Kostenerstattung sind aber noch
nicht in allen Satzungen der Krankenkassen vorgesehen. Es bleibt daher abzuwarten,
ob und in welcher Weise der deutsche Gesetzgeber und die Krankenkassen auf die
Urteile aus Luxemburg reagieren.
Sollten Krankenkassen auf den kaum praktikablen Gedanken verfallen, Leistungen
im Ausland im Wege der Sachleistung unter unmittelbarer Abrechnung zwischen
dem Leistungserbringer im Ausland und der Krankenkasse erbringen zu wollen,
werden wir uns mit aller Vehemenz dafür einsetzen, daß die notwendige
Gleichbehandlung und Wettbewerbsgleichheit zwischen Leistungserbringern im In-
und Ausland beachtet wird. Hierzu gehört es insbesondere, daß sich die
Leistungserbringer im Ausland den gesetzlichen und vertraglichen Regelungen zur
Arzneimittelversorgung nach §129 SGBV und zur Abrechnung der erbrachten
Leistungen nach §300 SGBV einschließlich der Einbeziehung der Zuzahlungsbeträge
unterwerfen.
Angriffe auf das System der Arzneimittelversorgung ergeben sich aber aus einer ganz
anderen Richtung: Bereits jetzt werden Stimmen laut, die aus den Entscheidungen
des Europäischen Gerichtshofes herauslesen wollen, daß ein Versandhandel
zugelassen werden müsse. Eine solche Bewertung der Entscheidungen des Gerichts
ist jedoch schlicht falsch. Die Urteile setzen sich weder unmittelbar mit dem
Versandhandel auseinander, noch läßt sich aus ihnen die Notwendigkeit der
Einführung eines Versandhandels mit Arzneimitteln ableiten.
Die EG-Versandhandelsrichtlinie erlaubt es im Gegenteil den Mitgliedstaaten
ausdrücklich, den Versandhandel mit Arzneimitteln zu verbieten. Der auch in
Deutschland bestehende politische Konsens über die Notwendigkeit eines Verbotes
des Versandhandels, das auch in der im Gesetzgebungsverfahren befindlichen 8.
AMG-Novelle nochmals ausdrücklich gesetzlich verankert werden soll, wird daher
durch die neuen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes nicht in Frage
gestellt.
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