Editorial

von
Rainer Vollmer
Bonner PZ-Korrespondent
Wenn der Europäische Gerichtshof seinen Generalanwalt Giuseppe Tesauro ernst
nimmt, dann wird das Gesundheitswesen der EU-Mitgliedsstaaten bald anders
aussehen als bisher gewohnt. Dann nämlich ist folgendes Szenario möglich: Ein
deutscher AOK-Versicherter läßt sich bei einem Arzt in den Niederlanden ambulant
behandeln, die Brille kauft er in Belgien und die Arzneimittel im vom Staat diktierten
Niedrigpreisland Frankreich.
Dafür nämlich plädierte der Generalanwalt bei einer Klage zweier Luxemburger.
Gesetzlich Krankenversicherte sollen sich künftig ganz regulär innerhalb der
Europäischen Union ambulant behandeln lassen dürfen, ohne daß die jeweilige
Krankenkasse des Heimatlandes diese Behandlung genehmigen muß. Gleichzeitig
haben Patienten nicht nur bei Notfallbehandlungen ein Recht darauf, die Kosten für
die Auslandsbehandlung bis zu der Höhe erstattet zu bekommen, wie sie für die
gleiche medizinische Dienstleistung oder Ware im Inland angefallen wären.
Damit wäre im europäischen Gesundheitswesen eine Freizügigkeit erreicht, die selbst
in der Wirtschaft noch nicht praktiziert wird. Die Krankenkassen könnten ihre
Vordrucke Auslandsreisekrankenscheine E 111 vernichten, sie könnten eine eigene
Außenstelle zur Abrechnung mit 15 Staaten einrichten - hoffentlich gemeinsam - und
sie könnten national nach allen möglichen Budgets rufen. Die Wirklichkeit hätte sie
eingeholt, die Freizügigkeit der Versicherten, ihre Leistungen nach Glück und gutem
Wollen einzukaufen, würde triumphieren.
Höchstwahrscheinlich werden alle Anbieter im Gesundheitswesen Deutschlands zu
leiden haben. Wahrscheinlich sogar auch die Krankenkassen und mit ihnen die
Beitragszahler.
Generalanwalt Tesauro sieht das alles optimistisch: Einem freien Waren- und
Dienstleistungsverkehr im Sinne der europäischen Verträge stehe im ambulanten
Sektor (Dienstleistung) und bei Hilfsmitteln (Waren) nichts im Wege. Vielmehr sei
hier eine verstärkte Orientierung an den Wünschen des Kunden beziehungsweise
des Patienten zu erwarten. So schön, so falsch. Was zu beweisen ist.
Der Gesundheitstourismus in Europa treibt nämlich bemerkenswerte Blüten, um die
sich -leider - die verantwortliche EU-Kommission nicht einen Deut schert.
Da fahren Busse, voll mit Italienern, nach Frankreich, um ihrem desolaten
Gesundheitswesen zu entgehen und ordentlich behandelt zu werden. Der Mißerfolg:
Italien sieht sich kaum imstande, die mehr als eine Milliarde DM Schulden an
Frankreich abzustottern.
In Frankreich können preisgünstig einige Medikamente gekauft werden, weil die
staatliche Preisregulierung nach einem einfachen und einträglichen Muster vorgeht.
Will eine ausländische Pharmafirma Arzneien in Frankreich vertreiben und schafft
mindestens 100 neue Arbeitsplätze, werden ihr staatlich garantierte hohe
Verkaufspreise zugestanden. Wer keine Arbeitsplätze schafft, muß die Arzneien zu
Tiefstpreisen anbieten.
Der Versicherte kann sich - vielleicht - freuen. Die deutschen Krankenkassen
müssen nachrechnen, ob sie mit deutscher Budgetierung oder französischem
Rigorismus besser bedient sind. Und der Apotheker kann dem Treiben nur noch
tatenlos zuschauen. Kein erfreulicher Aspekt.

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